Das Spiel
»Schockiere ich Euch?«
»Nein, Herzogin. Ich kann mir niemanden vorstellen, der in solchen Zeiten nicht ärgerlich auf die Götter oder voller Zweifel wäre. Wir alle — und besonders Ihr — haben zu viele Menschen verloren, die wir lieben, und zu viele schreckliche Dinge gesehen.«
»Genau.« Merolanna atmete erleichtert aus, als hätte sie schon lange darauf gewartet, solche Worte zu hören.
»Wirke
ich verrückt?«
»Überhaupt nicht, Euer Gnaden.«
»Dann gibt es ja dafür vielleicht eine Erklärung.« Sie reichte Utta das Pergament. Es war eine Seite eines Briefs, geschrieben in einer sorgfältigen, engen Handschrift, die Buchstaben so dicht beisammen, als ob das Papier selbst kostbar wäre und nichts davon verschwendet werden dürfte.
Utta kniff die Augen zusammen. »Es hat weder Anfang noch Ende. Gibt es noch mehr davon?«
»Es muss noch mehr geben, aber das hier ist alles, was ich habe. Es ist die Handschrift Olins — des Königs. Ich glaube, es muss der Brief sein, den Kendrick erhielt, kurz bevor der arme Junge ermordet wurde.«
»Und Ihr wünscht, dass ich ihn lese?«
»Gleich. Erst müsst Ihr verstehen, warum ... warum ich an meinem Verstand zweifle. Diese Seite, diese eine Seite, ist heute Morgen einfach in meinem Zimmer aufgetaucht.«
»Ihr meint, jemand hat sie hier hingelegt? Unter der Tür durchgeschoben?«
»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, sie ist ... einfach
aufgetaucht.
Während ich mit meinen Edelfrauen und Eilis im anderen Zimmer saß und wir uns über den Morgengottesdienst in der Kapelle unterhielten.«
»Sie ist einfach aufgetaucht, während Ihr im Gottesdienst wart?«
»Nein, während ich im anderen Zimmer saß! Götter, Frau, ich denke nicht so gering von meinem Verstand, dass ich mich für wahnsinnig hielte, nur weil mir jemand einen Brief hinterlassen hat. Wir waren gerade zurück vom Gottesdienst. Gehalten hat ihn der neue Priester, dieser griesgrämige Geselle. Wie Ihr wisst, haben die Tollys meinen lieben Timoid weggejagt.« Ihre Stimme klang gallebitter.
»Ich habe gehört, dass er die Burg verlassen hat«, sagte Utta vorsichtig. »Ich habe das sehr bedauert.«
»Aber das alles tut im Moment nichts zur Sache. Wie gesagt, wir waren gerade vom Gottesdienst zurück. Ich kam hier herein, um meine Kapellengangskleidung abzulegen. Da war kein Brief. Ihr denkt jetzt sicher, ich sei eine törichte alte Frau, die ihn einfach nicht bemerkt hat, aber ich schwöre bei allen Göttern, da war kein Brief. Ich ging hinaus ins Wohngemach und saß mit den anderen zusammen, und wir sprachen über den Gottesdienst und darüber, was wir heute tun würden. Das Feuer brannte herunter, und ich ging mir einen Schal holen, und der Brief lag hier mitten auf dem Bett.«
»Und niemand war hier hereingegangen?«
»Keine von uns hatte überhaupt das Wohngemach verlassen. Nicht ein einziges Mall«
Utta schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wollt Ihr jetzt, dass ich ihn lese?«
»Bitte. Es macht mich irre, mich die ganze Zeit zu fragen, warum so etwas hier hinterlegt wurde.«
Utta breitete das Blatt Pergament auf ihrem Schoß aus und begann laut vorzulesen.
... Männer am Rabentor sind nachlässig. Es scheint, als ob unsere starken alten Mauern sich nicht nur auf die innere Einstellung unserer Feinde auswirkten, sondern auch auf die unserer eigenen Soldaten. Ich weiß nicht, ob der junge Gardehauptmann, dessen Name mir entfallen ist, dieses Problem von Murroy geerbt hat und nur noch nicht willens oder in der Lage war, es zu beheben, oder ob er die Garde zu locker führt, aber das muss sich ändern. Sei gewarnt. Wir müssen auf der Hut sein vor Feinden nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb unserer Stadt, und das bedeutet größere Wachsamkeit.
Ich beschwöre Dich ferner, Brone auszurichten, dass die Felsen unterhalb der Stelle, wo die alte und die neue Mauer am Sommerturm zusammentreffen, überprüft werden und dort womöglich anders geartete Verteidigungsanlagen errichtet werden müssen — eine überhängende Mauer vielleicht und ein weiterer Wachposten. Das ist die einzige Stelle, an der jemand heraufklettern und direkten Zugang zur Hauptburg erlangen kann. Ich weiß, Du hältst dies bestimmt für übertriebene Besorgnis, mein Sohn, doch ich fürchte, der lange Frieden endet bald. Ich habe hier in Hierosol Gerüchte gehört, die mich beunruhigen, über den Autarchen und andere Dinge, und ich war schon besorgt, bevor ich zu dieser unseligen Unternehmung
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