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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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empfand.
    »Natürlich werde ich kommen«, beschied sie das Mädchen. Sie öffnete den Brief und sah, dass er nicht mehr enthielt, als die Dienerin bereits gesagt hatte, außer einem seltsamen Nachsatz in der leicht zittrigen Handschrift der Herzogin:
Falls Ihr Augengläser habt, bringt sie mit.
    Utta hatte keine, also bedeutete sie der Kleinen, den Schrein zu verlassen, und folgte ihr, konnte aber nicht umhin, sich zu wundern, was diese Anweisung der Herzogin zu bedeuten haben mochte: Merolanna war eine gebildete Frau und konnte selbst hervorragend lesen und schreiben.
    Als sie dem Mädchen Eilis durch die fast leeren Gänge folgte, fiel ihr auf, wie das Innere des Palastes das Wetter draußen widerzuspiegeln schien. Die Hälfte der Fackeln war nicht entzündet, und ein trübes Dämmergrau schien über den Korridoren zu liegen. Selbst die Stimmen hinter den Türen klangen wie durch dichten Nebel gedämpft. Die wenigen Leute, die ihr begegneten, Bedienstete zumeist, wirkten blass und stumm wie Gespenster.
    Ist es wegen der Zwielichtler drüben auf dem Festland? Einen ganzen Monat schon haben sie nichts unternommen, aber es fällt schwer, nicht jede Nacht an sie zu denken. Liegt es daran, dass die Zwillinge verschwunden sind? Oder ist da — möge die Weiße Tochter uns bewahren — noch etwas Schlimmeres, das diesen Ort so kalt und einsam macht wie eine öde Meeresküste?
    Als sie die Gemächer der Herzogin erreicht hatten, ließ Eilis Utta mitten im Vorgemach stehen, wo etliche Edelfrauen und Dienerinnen stumm über ihren Näharbeiten saßen, und ging zur Tür des inneren Gemachs, um anzuklopfen.
    »Sor Utta ist hier, Euer Gnaden.«
    »Ah.« Merolannas Stimme klang zwar schwach, aber entschlossen. Utta fühlte sich schon ein bisschen besser: Falls die Herzoginwitwe krank war, hörte man es ihr nicht an. »Schick sie herein. Du bleibst draußen bei den anderen, Kind.«
    Zu ihrer Überraschung fand Utta die Herzogin vollständig angekleidet, mit frisiertem Haar und gepudertem Gesicht. Sie wirkte wie für einen Staatsanlass zurechtgemacht, saß aber auf der Bettkante wie ein verzagtes Kind. Sie wedelte geistesabwesend mit einem Blatt Pergament und deutete auf einen Stuhl, der hoch und breit genug war, um eine Frau in einem voluminösen Hofkleid aufzunehmen. Utta setzte sich. Da sie lediglich ihre schlichten Schwesterngewänder trug, blieb auf dem Sitz zu beiden Seiten so viel Platz, dass sie sich fühlte wie eine einzelne Erbse, die in einer großen Schüssel umherkullerte. »Was kann ich für Euch tun, Euer Gnaden?«
    Merolanna wedelte wieder mit dem Pergament, diesmal, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. »Ich glaube, ich werde verrückt, Schwester. Nun ja, vielleicht nicht verrückt, aber ich weiß nicht mehr, wo oben oder unten, links oder rechts ist.«
    »Euer Gnaden?«
    »Habt Ihr Eure Lesebrille mitgebracht?«
    »Ich benutze nichts dergleichen, Euer Gnaden. Ich komme auch so zurecht, wenn meine Augen auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren ...«
    »Ich kann ohne meine Augengläser kaum noch lesen. Chaven hat sie für mich angefertigt, wunderschöne Sehlinsen in einer Fassung aus Golddraht. Aber ich habe sie verloren, verflucht, und er ist fort.« Sie blickte sich mit einer Mischung aus Empörung und Vorwurf im Schlafgemach um, so als wäre Chaven absichtlich verschwunden, nur um sie halb blind zurückzulassen. »Soll ich Euch etwas vorlesen?«
    »Lesen ja — aber leise! Kommt und setzt Euch neben mich, ich habe es bereits entziffert, auch ohne meine Brille, aber ich möchte wissen, ob Ihr die gleichen Wörter lest.« Merolanna klopfte neben sich aufs Bett. Utta benutzte selbst kein Parfüm, nicht weil es die Schwesternschaft nicht erlaubt hätte, sondern weil sie es so vorzog, und sie fand Merolannas süßen, pudrigen Geruch ein wenig verwirrend, ganz zu schweigen von dem Niesreiz, den er bei ihr auslöste. Sie setzte sich ruhig hin, die Hände im Schoß, und versuchte, nicht allzu tief einzuatmen.
    »Das hier!«, sagte Merolanna und wedelte wieder mit dem Blatt Papier. »Ich bin mir, wie ich wohl schon sagte, nicht sicher, ob ich nicht verrückt werde. Alles steht auf dem Kopf, und das schon seit Monaten! Es fühlt sich fast an wie das Ende der Welt.«
    »Die Götter werden uns da gewiss heil hindurchbringen, Euer Gnaden.«
    »Vielleicht, aber bisher haben sie nicht viel getan, um uns zu helfen. Vielleicht schlafen sie ja oder sind einfach fortgegangen.« Merolanna lachte kurz und hart.

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