Das Spiel
der blinde König Ynnir din'at sen-Qin, Hüter der Feuerblume, Herr der Winde und des Denkens, nicht einfach in die Kammer der Totenwache gehen. Zuerst musste er die Garde der Elementargeister demütig bitten und ihnen die Möglichkeit geben, ihre kriegerischen Rituale zu seinen Ehren und zu Ehren derjenigen, die sie bewachten, zu vollführen — den Gruß des Knochenmessers, den Gesang des Eulenauges (der inzwischen dank eines Erlasses von Ynnirs Großvater glücklicherweise kürzer war; einst hatte er einen vollen Tag gedauert) und das Zählen der Pfeile. Als das alles erledigt war und der Wachkommandant der Elementargeister den Helm zum Gruß abgenommen hatte — was Ynnir auch ohne Augenlicht immer den schwierigen Teil fand —, ging der König weiter.
Die Zelebranten der Mutter Nacht erfüllten keinen offiziellen Dienst, aber es war ihnen erlaubt worden, ihr Trauerlager vor der Kammer der Totenwache aufzuschlagen. Allein schon zwischen ihnen hindurchzugehen, ihr Heulen und Wehklagen zu hören und ihr schieres Leid zu fühlen, war wie ein Gang durch beißenden Wind und nadelspitzen Graupel. Bleiche Tochter selbst hätte, als sie, den Götterspross im Leib, aus dem Haus ihres Liebhabers floh, keinen schauerlicheren Schmerz fühlen können.
Es war eine Erleichterung, nach einem Zeitraum, der sich anfühlte wie Tage, aus dem Gemach, wo die Zelebranten schrien und sich selbst an den Haaren rissen, in die Stille der letzten Vorkammer zu treten, vor Zsan-san-sis, den alten Anführer der Kinder des smaragdenen Feuers. Zsan-san-sis war aus den unterirdischen Tümpeln, in die er sich im Alter mehr und mehr zurückgezogen hatte, wieder hervorgekommen; es zeugte vom Ausmaß der Krise, dass er sich selbst zum letzten Wächter der Kammer der Totenwache ernannt hatte, während vor der Halle der Spiegel nur einer seiner jüngeren Großneffen Wache hielt.
»Mondenschein und Sonnenlicht«, sagte der König.
»Und so mögen die Tage der Großen Niederlage dahingehen bis zum Schlaf der Zeit«, vollendete der andere den zeremoniellen Gruß. »Ich heiße Eure Majestät willkommen.« Sein Ton schien noch knapper als sonst, das Glimmen unter seinem Zeremonialgewand schwach und verhalten, sodass seine Maske im Schatten der Kapuze kaum zu sehen war. Der König hatte immer Schwierigkeiten, Zsan-san-sis' Stimmung zu lesen, als ob sein fehlendes Augenlicht und die Silbermaske des anderen für ihn ein ebenso reales Hindernis wären wie für einen Sterblichen. Die Kinder des smaragdenen Feuers hatten lange die Sache der Königin verfochten, obwohl der alte Anführer immer schon einer der Konziliantesten seines Clans gewesen war. Früher hatte sich Ynnir oft gefragt, was geschehen würde, wenn Zsan-san-sis irgendwann endgültig auf den Grund eines seiner Tümpel sank und womöglich jemand, der weniger kompromissbereit war, die Führung der Kinder des smaragdenen Feuers übernehmen würde. Jetzt schien das keine Rolle mehr zu spielen.
»Wie geht es ihr heute?«
»Ich war nicht bei ihr drinnen, Majestät. Ich fühle sie kaum — nur ein schwacher Hauch wie ein Flüstern von der Höhe des Schweigens.« Seine Gedanken und seine Worte — für den König waren sie eins — waren von Kummer und Resignation getrübt. »Selbst wenn wir siegen würden, Majestät, könnte sie jetzt niemals reisen. Sie würde sterben, ehe wir unsere eigenen Lande verlassen hätten.«
Ynnir legte sich die flache Hand auf die Brust und spreizte die Finger, eine Geste namens
Bedeutung unvollständig.
»Wir können nur warten und Geduld haben, Alter, so schwer das auch ist. Noch sind viele Fäden nicht gerissen.«
»Ich hätte meine letzte Zeit lieber nicht auf diese Art verbracht«, sagte Zsan-san-sis. »Damit, zusammenzuhalten, was zerbrochen ist, in dem Wissen, dass die Töchter der Tochter meiner Tochter ihre Kinder in lichtlosen Tümpeln zur Welt bringen werden.«
Ynnir schüttelte den Kopf. »Wir alle tun, was wir können. Ihr habt mehr getan als die meisten. Diese Niederlage wurde zu Anbeginn der Zeit festgesetzt — wir kennen nur nicht die Stunde, da sie kommt.«
»Wer könnte nicht mit Gewissheit sagen, dass sie vor der Tür steht?«
»Ich kann es nicht.« Ynnir sagte es sanft, mit einem Unterton von Energie und Hoffnung, von Erneuerung selbst nach dem Tode. »Und Ihr solltet es auch nicht sagen. Tut, was Ihr immer getan habt — tut, was Euch Euer Stammvater gelehrt hat. Wir werden uns dem tapfer stellen, und wer weiß? Vielleicht erleben wir ja doch
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