Das Spiel
verschwommen und fern, als sähe sie es durch dichten Nebel oder ein dreckiges Fenster. Sie wusste, sie hätte sich fürchten müssen, und sie hatte auch Angst — aber nicht um sich selbst.
Sie werden ihn ergreifen,
war alles, was sie denken konnte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer
er
war und wer
sie
waren. Der Junge, von dem sie geträumt hatte, der blasse mit dem roten Haar, das ihm in schweißfeuchten Kringeln im Gesicht klebte — war er derjenige, den die Schattenwesen jagten? Aber warum sollte sie immer wieder von einem Gesicht träumen, das sie gar nicht kannte?
Qinnitan erwachte und merkte, dass Spatz halb unter ihr lag. Obwohl der stumme Junge selbst selig weiterschlief, drückten sie seine knochigen Ellbogen und Knie und sein Kinn, als ob sie in einem Haufen Zypressenzweige läge. Trotzdem, es war schwer, ihm böse zu sein, wenn man in sein Gesicht sah. Der unschuldige, halb geöffnete Mund mit dem jämmerlichen Zungenstummel hinter den Zähnen erfüllte sie mit einer schmerzlichen Zärtlichkeit, wie sie sie für ihre eigenen Geschwister nie empfunden hatte, vielleicht weil sie für Spatz in ganz anderer Weise verantwortlich war.
Wie seltsam, hier in diesem schmalen, unbequemen Bett zu liegen, in einem fremden Land, und über zwei Menschen nachzudenken, von denen einer das Kind war, das neben ihr lag (und jetzt, da sie sich ein wenig Platz geschaffen hatte, leise zu frösteln schien), und der andere nichts als eine Traumgestalt. Wie war es nur dazu gekommen? Einst war sie ein ganz normales kleines Mädchen in einer ganz normalen Straße gewesen, das mit anderen Kindern spielte. Jetzt war sie völlig allein in einem fremden Land, auf der Flucht vor dem Autarchen selbst.
Qinnitan verstand es noch immer nicht. Warum hatte Sulepis, der Herrscher der gesamten südlichen Welt, gerade sie auserwählt? Sie war doch nicht von so erlesener Schönheit wie Arimone, die Erste Ehefrau des Autarchen, ja eigentlich gar nicht besonders schön. Qinnitan hatte sich oft genug gesehen — ihr längliches Gesicht, ihre skeptisch geschürzten, dünnen Lippen, die wachen, ein wenig misstrauischen Augen, die ihr aus den blank polierten Spiegeln des Frauenpalasts entgegengeblickt hatten —, um sich darüber im Klaren zu sein.
Genug gegrübelt, sagte sie sich gähnend. Es musste schon fast Morgen sein, wenn sie auch hoffte, dass Nushashs mächtiger Wagen noch mindestens eine Stunde von seiner Tagesbahn entfernt war: Sie wollte noch ein bisschen schlafen. Sie schob Spatz so weit beiseite, dass sie sich ausstrecken konnte. Er produzierte ärgerliche Laute durch die Nase, ließ sich aber in eine Lage bringen, die für sie weniger schmerzhaft war.
Als sie gerade wieder in die wohlige Wärme des Schlafs sank, hörte sie einen dumpfen Ton, so tief, dass der Boden vibrierte. Gleich darauf folgte ein weiterer, diesmal höher. Beide Töne erklangen erneut, und ein dritter kam hinzu — Glocken, erkannte sie schließlich, fernes Geläut. Zuerst dachte Qinnitan schläfrig verwirrt, es wäre der Ruf zum Morgengottesdienst im Bienentempel, dann fiel ihr wieder ein, wo sie war, und sie setzte sich auf, wozu sie sich erst von dem protestierenden Jungen befreien musste. Andere um sie herum regten sich ebenfalls. Das Läuten hielt an.
Qinnitan stieg aus dem Bett und eilte durch den Schlafsaal hinaus auf den dunklen Gang. Ein paar andere Frauen stolperten ebenfalls zur Tür, schwerfällige Gespenster in ihren unförmigen Nachtgewändern. Die Glocken läuteten so laut und stetig, dass sie sich gar nicht mehr erinnern konnte, wie es eben noch gewesen war, in der Stille der Nacht.
Sie lief an das Gangfenster, das nach Osten auf den mächtigen Drei-Brüder-Tempel hinausging. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber sie sah Licht in den Fenstern des Glockenstuhls. Wie seltsam — was hatte das zu bedeuten? Sie schaute hinab, ob da schon jemand auf der Straße war, und im Schein der Laterne, die in der Ecke des Hofes brannte, erkannte sie vage einen hellhaarigen Kopf: Ein Mann — der von gestern Abend, da war sie sich sicher — strebte scheinbar gelassen, aber eilig von unterhalb des Fensters ins Schattendunkel. Eine kalte Hand presste ihr Herz zusammen. Wieder dieser Mann. Er hatte sie beobachtet oder zumindest das Kossope-Haus, das Schlafquartier, wo sie Unterschlupf gefunden hatte. Wer war er? Was wollte er?
Als das erste Tageslicht den Himmel violett färbte, stand sie immer noch da, kalte Luft im Gesicht, am ganzen Körper
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