Das Spiel
wirkte das Wasser so glatt wie der bemalte Marmor einer Statue. Pelaya dachte an das, was ihr Vater über die westlichen Vorfestungen gesagt hatte, und schaute auf die Halbinsel hinaus, erkannte dort aber nichts außer einer Nebelbank. Das Wasser der Straße von Kulloan und der Morgenhimmel schienen zu einem einzigen, diffusen Grau zu verschwimmen.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch heute zu sehen, und schon gar nicht so früh.« Sein Lächeln war ein wenig traurig. Er schien dünner geworden. »Habt Ihr denn heute Morgen keinen Unterricht?
Sor
Lyris wird ungehalten sein.«
»Macht keine Scherze. Ihr habt doch die Glocken gehört — die könnt Ihr ja wohl nicht überhört haben!«
»Ach ja, da hat irgendetwas geläutet ...«
Sie machte ein finsteres Gesicht. Sie konnte es gar nicht leiden, wenn er alberne Sachen sagte und dabei ganz ernst tat, so als wäre sie ein Kind, mit dem man Späßchen macht. Sie fragte sich, ob er das mit seiner Tochter auch gemacht hatte, der, von der er immer so traurig sprach und die er offenbar so sehr vermisste. (Von seinem Sohn sprach er dagegen ziemlich selten, war ihr aufgefallen.) »Genug. Ich muss schnell zurück zu meiner Familie. Was wird jetzt mit Euch, Majestät?«
»So ein formeller Titel, jetzt bin ich
wirklich
beunruhigt.« Er senkte den Kopf — es hätte fast schon eine Verneigung sein können. »Mir wird schon nichts widerfahren, gutes Fräulein, aber danke für Eure Anteilnahme. Geht nur zu Eurer Familie. Ich habe ein nettes, stabiles Gemach mit einem Gitter vor dem Fenster und einer warmen Bettdecke.« Er hielt inne. »Oh, aber Ihr habt ja wirklich Angst. Verzeiht — es war gefühllos von mir, Scherze zu machen.«
Sie wollte es gerade abstreiten, spürte aber plötzlich, wie ihr Hitze ins Gesicht stieg. Sie wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen, hier, vor diesem Mann, der trotz ihrer netten Unterhaltungen doch ein Fremder war, ein Ausländer. »Ein bisschen«, gestand sie. »Ihr nicht?«
Für einen Augenblick lugte da etwas anderes unter seiner höflich-charmanten Maske hervor — tiefe, düstere Verzweiflung. »Mein Schicksal liegt ganz in der Hand der Götter.« Gleich darauf hatte er sich wieder gefasst, und es war, als wäre die Maske nie verrutscht.
Natürlich,
dachte sie.
Meins doch auch. Was sollte daran so beängstigend sein, wenn wir uns so verhalten, wie es die Götter gebieten?
Laut sagte sie: »Aber was glaubt Ihr denn, was der Autarch von uns will?«
»Wer weiß das schon?«, sagte Olin achselzuckend. »Aber Hierosol steht schon so lange. Viele Herrscher haben es zu bezwingen versucht und sind gescheitert — auch viele Autarchen. Vor hundert Jahren hat Lepthis ...« Er hielt stirnrunzelnd inne. »Verzeiht, aber ich weiß nicht mehr, welcher Lepthis, der Dritte oder der Vierte. Jener hatte den Beinamen ›der Grausame‹, als ob das reichen würde, um einen Lepthis vom anderen zu unterscheiden oder überhaupt irgendeinen Autarchen vom Rest dieser blutrünstigen Horde. Jedenfalls schwor dieser Autarch, die Mauern Hierosols mit den mächtigsten Kanonen der Welt zu zertrümmern. Kennt Ihr diese Geschichte?«
»Ein wenig.« Sie atmete zittrig ein. Olin hatte aufrichtig betroffen gewirkt, als er gemerkt hatte, dass er ihr Angst machte, und jetzt war ihr gar nicht mehr klar, wer hier wen aufzumuntern versuchte. »Er hat es nicht geschafft, oder?«
Olin lachte. »Offensichtlich nicht, denn wir sprechen ja hierosolinisch, und Ihr seht doch hier auf dem Zitadellenhügel nirgends einen Tempel des feurigen Nushash oder der schwarzen Surigali, oder? Lepthis der Grausame schwor, die Tempel aller falschen Götter, wie er sie nannte, zu zerstören und sämtliche Bewohner Hierosols zu erschlagen. Er beschoss die Mauern ein ganzes Jahr lang mit Kanonen, vermochte ihnen aber nicht die kleinste Scharte zuzufügen. Die Fliegen und Stechmücken drunten im Tal vor den nördlichen Mauern setzten den Truppen zu, und die Xandier dort starben in Massen am Fieber und an Seuchen. Und Tausende weitere erlagen Brandgeschossen hier aus der Festung. Schließlich verlangten seine Männer, er solle sie wieder nach Xis zurückkehren lassen, aber von einer solchen Befleckung seiner Ehre wollte Lepthis nichts wissen. Also töteten ihn seine Männer und machten seinen Erben zum Autarchen. Und dann segelten sie alle wieder zu den Gestaden Xands zurück.«
»Seine eigenen Männer töteten ihn?«
»Seine eigenen Männer. Selbst die blutrünstigsten Soldaten wollen
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