Das Spiel
hätte nicht gefragt. »Wahrscheinlich. Wir haben Signale von den westlichen Vorfestungen, dass sie angegriffen werden, und wir haben Meldungen, dass ein riesiges Heer die Küste herabzieht, in Richtung der nektarischen Mauer — der Mauer zum Land hin.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das kann auch alles übertrieben sein. Der Autarch weiß, dass er unsere Befestigungsanlagen niemals durch brechen kann, also will er uns vielleicht nur einschüchtern, damit wir ihm gestatten, unsere Gewässer zu passieren, um jemand anderen anzugreifen.«
Pelaya glaubte das nicht und hatte das deutliche Gefühl, dass ihr Vater es auch nicht glaubte. »Na gut. Wir werden es Mama sagen.«
»Sagt ihr, wir sollten die Familie in das Haus am Markt hinunterbringen. Hier oben in der Zitadelle könnte es gefährlich werden, obwohl der Autarch — selbst wenn er es irgendwie schafft, die westlichen Vorfestungen einzunehmen — uns hier mit seinen Kanonen doch niemals erreicht. Trotzdem, besser den letzten Delfin für ein sicheres Dach ausgeben, wie mein Vater immer zu sagen pflegte, nur für den Fall, dass es regnet. Sagt ihr, sie soll packen. Ich bin vor den Mittagsgebeten zurück.«
Pelaya stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Noch vor wenigen Monaten war sie an sein Gesicht nur herangekommen, wenn er sich tief hinabbückte. Jetzt konnte sie seine breite Brust umschlingen und den Ambraduft seiner Gewänder riechen. »Geht jetzt«, sagte er sanft. »Alle beide. Eure Mutter wird eure Hilfe brauchen.«
»Wir ziehen gleich um, hinunter in die Stadt«, sagte Teloni, als sie die Haupttreppe der Zitadelle wieder hinabtrotteten und sich zwischen aufgeregten und ängstlichen Menschen hindurchzwängen mussten, die so hektisch durcheinanderwimmelten, als riefen die Glocken sie vor das Gericht der Götter. »Selbst wenn der Autarch mit seinen Kanonen schießt,
so
weit reichen sie bestimmt nicht.«
Pelaya fragte sich, was Teloni wohl glaubte, wozu Armeen schwere Kanonen mitschleppten, wenn nicht, um damit zu schießen. »Es sei denn, er führt sein Heer zum Salamandertor hinauf und feuert von dort auf die Stadt.« Sie kam sich fast schon grausam vor, als sie das sagte.
Telonis Augen wurden weit vor Angst, und sie stolperte auf der letzten Treppenstufe. Pelaya musste sie am Ärmel festhalten. »Das tut er bestimmt nicht.«
Pelaya begriff, dass sie mit Reden — auch wenn das, was sie sagte, stimmte — nichts weiter bewirkte, als ihrer Schwester und gleich auch ihrer Mutter und den Kleinen nur noch mehr Angst zu machen. Sie drückte Telonis Arm.
»Bestimmt hast du recht. Geh und sag Mama Bescheid. Ich komme sofort — muss noch etwas erledigen.«
Ihre große Schwester schaute ihr verblüfft hinterher, als Pelaya kehrtmachte und durch die Halle in Richtung Garten lief. »Was ... wo willst du denn hin?«
»Geh zu Mama! Ich bin gleich da!«
Sie nahm die Abkürzung durch den Hof der vier Schwestern und rannte beinah in einen Trupp Zitadellengarden hinein, die auf ihren himmelblauen Waffenröcken die Libelle trugen, das Wappenzeichen der alten Devonai-Könige, das auch jetzt noch, Jahrhunderte nach der Regierungszeit des letzten dieser Monarchen, den Ausweis der Legitimität darstellte. Die Garden, die unter normalen Umständen mit Sicherheit stehen geblieben wären, um sie vorbeizulassen, verlangsamten ihren Schritt kaum. Die gestiefelten Füße stampften auf den Boden, als sie stur weitermarschierten, und ihre Gesichter waren so verbissen und verschlossen, dass es Pelaya ganz eng um die Brust wurde.
Aber Papa hat doch sicher recht — der Autarch wird doch nicht so dumm sein, Hierosol erobern zu wollen. Das ist seit tausend Jahren niemandem gelungen!
Doch glaubte sie selbst nicht, dass es so einfach war. In der Luft lag eine seltsame Erregung, wie ein Wind, der Gerüche aus einem wilden, fernen Land herantrug. Auch dass die Glocken endlich verstummten, machte die Welt nicht normaler: Die Stille, die jetzt herrschte, schien genauso unheilvoll zu vibrieren wie die Luft während des Geläuts.
Als sie den Garten erreichte, wurde Olin Eddon gerade von seinen Bewachern wieder ins Haus geführt. Nach kurzer Diskussion gestatteten sie ihm, doch noch einen Augenblick an der Mauer zurückzubleiben, von der man auf die tiefer gelegenen Dächer des westlichen Palasttraktes, die Seemauer, die Wasserstraße und das dahinter liegende weite, grüne Meer blickte. Trotz des kalten Windes, der durch den Garten wirbelte,
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