Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
weiß!« Zum ersten Mal registrierte Chert einen eigenartigen Unterton in der Stimme des Arztes. »Aber er ... es passiert nichts.«
    »Es passiert nichts? Verzeihung, was ...?«
    »Stellt Euch nicht dumm, Funderling.« Okros schüttelte ärgerlich den Kopf, beruhigte sich dann wieder. »Das ist ein Wahrsagespiegel. Ihr und Eure Leute glaubt doch wohl nicht, ich würde wegen eines gewöhnlichen Spiegels um Hilfe ersuchen? Das ist ein echter Wahrsagespiegel — eine ›Platte‹, wie man diese Objekte manchmal auch nennt —, aber er zeigt mir nichts, er ist tot. Wollt Ihr immer noch den Unbedarften spielen?«
    Chert hielt den Blick auf den Spiegel gerichtet. Dieser Mann war nicht nur ärgerlich, er war irgendwie ängstlich. Was mochte das zu bedeuten haben? »Ich spiele gar nichts, Herr, und ich bin auch nicht unbedarft. Ich wollte nur hören, was Ihr wünscht. Also, was könnt Ihr mir noch sagen?« Er versuchte sich an Chavens Worte zu erinnern. »Ist es ein Problem der Reflexion oder der Refraktion?«
    »Beides.« Der Arzt schien jetzt etwas besänftigt. »Das Material scheint, wie Ihr seht, intakt, aber er funktioniert nicht. Als Wahrsagespiegel ist er nicht zu gebrauchen. Ich kann nichts damit anfangen.«
    »Könnt Ihr mir sagen, wo er herstammt?«
    Okros sah ihn scharf an. »Nein, das kann ich nicht. Warum fragt Ihr?«
    »Weil die Literatur über Wahrsagespiegel und auch die nicht schriftlich niedergelegte Lehre auf das Bekannte angewandt werden muss, um das Unbekannte zu erschließen.« Er hoffte, dass das nicht zu sehr klang, als saugte er es sich aus den Fingern (was der Fall war): Chaven hatte ihm ein paar Namen und Fakten genannt, die er an gegebener Stelle einstreuen sollte, aber er hatte ja nicht vorher ahnen können, was genau Okros wissen wollen würde. »Vielleicht könnte ich ihn mitnehmen und ihn der Funderlingszunft zeigen ...«
    »Seid Ihr verrückt?« Okros umschlang den Spiegel, als gälte es, ein hilfloses, kleines Kind vor einem räuberischen Wolf zu beschützen. »Ihr werdet gar nichts mitnehmen! Dieses Objekt ist mehr wert als die gesamte Funderlingsstadt!« Er starrte Chert an, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.
    »Verzeiht, Herr, ich dachte ja nur ...«
    »Euch ist doch wohl klar, welche Ehre es ist, überhaupt zu Rate gezogen zu werden. Ich bin der Leibarzt des Prinzregenten — der königliche Hofarzt! — und ich lasse nicht mit mir scherzen.«
    Chert überkam jetzt erstmals Angst, nicht vor Okros selbst — auch wenn dieser Mann jederzeit die Wachen rufen und ihn in den Kerker werfen lassen konnte —, sondern vor dessen seltsam fiebriger Erregung. Sie erinnerte ihn stark an das merkwürdige Verhalten, das Chaven an den Tag gelegt hatte. Was war an diesem Spiegel, dass er Männer in gierige Bestien verwandelte?
    »Allenfalls«, sagte Okros, »könnte ich zu Euch kommen und mich in der Bibliothek der Funderlingsstadt umsehen. Die Zunft wird sie mir ja wohl sicher zur Verfügung stellen.«
    Das war in vielerlei Hinsicht keine gute Idee, soviel war Chert klar. »Gewiss, Herr. Es wäre der Zunft eine Ehre. Aber das meiste Wissen über Dinge wie solche Spiegel findet sich nicht in Büchern, sondern nur in den Köpfen unserer ältesten Männer und Frauen. Sprecht Ihr die Funderlingssprache?«
    Okros sah ihn an, als machte er Witze. »Was soll das heißen, Funderlingssprache? Dort unten wird doch wohl nichts anderes gesprochen als gemeines Markenländisch?«
    »O nein, Bruder Okros, Herr. Viele unserer Alten haben die Funderlingsstadt schon lange nicht mehr verlassen und sprechen nur die alte Sprache unserer Vorfahren.« Was nicht ganz gelogen war, wenn es auch nur noch sehr wenige gab, die nichts anderes sprachen als Altfunderlingisch. »Ich könnte doch nach Hause gehen, der Zunft Eure Fragen — und natürlich auch meine Bobachtungen — vortragen und Euch dann in ein, zwei Tagen die Antwort überbringen. Für einen vielbeschäftigten Mann wie Euch wäre das doch sicher die beste Lösung.«
    »Nun ja, vielleicht ...«
    »Ich will mir nur noch ein paar Notizen machen.« Rasch skizzierte er Spiegel und Rahmen und kritzelte Anmerkungen an den Rand, so wie er es bei der Planung eines besonders komplizierten Gerüsts getan hätte. Als er dieses Tun so lange wie möglich ausgedehnt hatte, fiel ihm noch etwas ein, das ihm Chaven aufgetragen hatte, etwas, das er herausfinden sollte, auch wenn es für ihn keinen Sinn ergab. Chaven hatte die Frage irgendwie kunstvoll formuliert, aber er wusste

Weitere Kostenlose Bücher