Das Spiel
»Sprecht leise«, befahl sie ihnen.
Chaven hatte kaum begonnen, die bizarren Ereignisse der Winterfestnacht zu schildern, als Opalia zurückkam, nachdem sie den Jungen wieder ins Bett gebracht hatte. Also fing er noch mal von vorn an. Seine Geschichte, die schon hanebüchen genug gewesen wäre, wenn sie ein Reisender aus einem fernen, exotischen Land mitgebracht hätte, wäre aus dem Mund eines Mannes, der gerade mal das vertraute Umland von Südmarksstadt bereist hatte, ganz und gar unglaubhaft gewesen, hätte es sich bei diesem Mann nicht um Chaven gehandelt, den Chert nicht nur als ehrlichen Menschen kannte, sondern auch als jemanden, der sorgsam trennte zwischen dem, was er wusste und dem, was er nicht wusste, zwischen dem, was beweisbar war und was nur reine Vermutung.
»Auf Fels gebaut«,
hatte Cherts Vater über solche Leute gesagt,
»nicht auf Sand, der bei jedem Achselzucken der Alten dahin und dorthin rutscht.«
»Meint Ihr, der schurkische Tolly hat etwas mit dieser südländischen Hexe Selia zu tun?«, fragte Chert. »Mit dem Tod des armen Prinzen Kendrick und dem Angriff auf die Prinzessin?« Seit seiner einen kurzen Begegnung mit Briony Eddon fühlte er sich ihr fast schon persönlich verbunden, und schon jetzt hasste er Hendon Tolly und dessen Sippschaft aus tiefstem Herzen.
»Ich weiß nicht, aber bei den wenigen Gesprächsfetzen zwischen ihm und seinen Wachen, die ich mitgehört habe, klangen sie alle genauso überrascht wie ich. Doch ihr Verrat an der königlichen Familie steht außer Zweifel, und ihre Absicht, mich als den Zeugen des wahren Geschehens zu ermorden, nicht minder.«
»Sie hätten Euch wirklich getötet?«, fragte Opalia.
»Mit Sicherheit, wenn ich es dazu hätte kommen lassen«, sagte Chaven mit einem gequälten Lächeln. »Als ich mich im Frühlingsturm vor ihnen versteckte, hörte ich, wie Hendon Tolly seinen Leuten erklärte, dass ich keinesfalls lebendig ergriffen werden dürfe — dass er den Mann belohnen werde, der mich töte.«
»Bei den Alten der Erde!«, stieß Opalia fassungslos hervor. »Die Burg in den Händen von Banditen und Mördern!«
»Für den Augenblick jedenfalls. Ohne Prinzessin Briony und ihren Bruder sehe ich keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.« Das viele Reden hatte den Arzt erschöpft; er konnte den Kopf kaum noch aufrecht halten.
»Wir müssen Euch zu einem der mächtigen Edelleute bringen«, sagte Chert. »Zu einem, der dem König treu ergeben ist und Euch beschützen wird, bis Eure Geschichte bekannt geworden ist.«
»Wer ist denn da noch? Tyne Aldritch ist auf dem Kolkansfeld gefallen, Nynor hat sich aus Furcht auf seinen Landsitz geflüchtet«, sagte Chaven matt. »Und Avin Brone scheint seinen persönlichen Frieden mit den Tollys geschlossen zu haben. Ich traue keinem mehr.« Er schüttelte den Kopf, als wäre dieser ein schwerer Stein, den er schon zu lange umhertrug. »Und was das Schlimmste ist, die Tollys haben mein Haus besetzt, mein prächtiges Observatorium.«
»Aber warum? Glauben sie, Ihr hieltet Euch immer noch dort versteckt?«
»Nein. Sie suchen etwas, und ich fürchte, ich weiß, was es ist. Sie nehmen alles auseinander — ich konnte sie durch die Wände meines unterirdischen Verstecks hören. Sie suchen und suchen ...«
»Warum denn? Wonach?«
Chaven stöhnte. »Selbst wenn es das ist, was ich vermute, weiß ich doch nicht genau, warum sie es wollen — aber ich habe Angst, Chert. Da ist mehr im Gange, hier und in der Welt dort draußen, als nur ein schlichter Kampf um den Thron der Markenlande.«
Plötzlich wurde Chert bewusst, dass Chaven gar nichts von
seinen
Abenteuern wusste, von den unerklärlichen Geschehnissen um den Jungen dort drüben im anderen Zimmer. »Da ist noch mehr, ja«, sagte er. »Jetzt müsst Ihr Euch ausruhen, aber dann erzähle ich Euch, was ich erlebt habe. Ich bin den Zwielichtlern begegnet. Und der Junge ist zu den Mysterien vorgedrungen.«
»Was? Erzählt jetzt gleich!«
»Lass den armen Mann schlafen.« Opalia klang selbst erschöpft oder vielleicht auch nur wieder deprimiert. »Er ist so schwach wie ein verstoßenes Tierjunges.«
»Danke ...«, sagte Chaven, kaum noch fähig, Worte zu artikulieren. »Aber ... ich muss diese Geschichte hören ... sofort. Chert, ich habe einmal zu Euch gesagt, ich fürchtete, ich wüsste, was die Verschiebung der Schattengrenze bedeutet. Aber jetzt denke ich, das war ... noch gar nichts.« Das Kinn sank ihm auf die Brust. »Gar nichts ...«, seufzte er,
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