Das Spiel
könnt doch nicht so tun, als geschähe so etwas immerzu.
Von Gyir kam jener Schwall bitterer Belustigung, den Barrick inzwischen als Lachen zu deuten gelernt hatte.
Dass sich Euer Volk und mein Volk gegenseitig an die Kehle gehen, ist nicht so ungewöhnlich. Ihr habt uns über Jahre abgeschlachtet. Und wir haben euch, um gerecht zu sein, seither zweimal angegriffen.
Ihr wisst, was ich meine.
Gyir musterte ihn und nickte dann.
Ja, das stimmt. Es gibt Dinge, die ich Euch nicht erzählen kann, auch wenn uns die Umstände zu Verbündeten machen — Versprechen, die ich gegeben, Eide, die ich geschworen habe. Aber einiges kann und sollte ich Euch erzählen. Euer Gefährte muss es ebenfalls hören.
Der Elbe hielt inne. Barrick drehte sich um und sah, wie Ferras Vansen sich langsam in eine sitzende Position emporstemmte, geweckt vom lautlosen Ruf des Sturmlichts.
Die Zeit ist knapp,
sagte Gyir.
Ihr müsst beide gut zuhören.
Er spreizte die blassen Finger.
Außer der Erfahrung gibt es zwei Wege, wie das
Volk
zu Weisheit gelangt. Der eine ist die Gabe der Feuerblume —
hier erstand ein Gedankenbild in Barricks Kopf, das er kaum erfassen konnte, etwas, das größer und komplizierter war als alles, was Gyir je gesagt hatte —
und der andere ist die Tiefe Bibliothek.
An den verborgensten Stellen im Haus des
Volkes
überdauert die Weisheit unserer frühesten Zeiten in Gestalt der Bewahrten und ihrer Stimmen — das ist die Tiefe Bibliothek. Diese Stimmen sprechen die Weisheit der Bewahrten aus, und so wird das
Volk
unterwiesen und erinnert.
Gyirs Gedanken waren rhythmisch, fast ein Singsang, als ob er eine Geschichte weitergäbe, die er als Kind gelernt hatte.
Diese Stimmen sind — zusammen mit der Weisheit der Feuerblume, die manchmal die Gabe genannt wird — das, was die Hohen über den Rest des
Volkes
erhebt und uns die Herrschaft über unsere Länder und Gesänge gebracht hat.
Ihr habt gehört, dass die Götter aus dieser Welt ins Reich des Schlafes verbannt wurden. Das war das Werk des Gottes, den wir Krummling nennen, und über dieses Geheimnis kann ich wenig sagen, aber es ist die Grundlage all dessen, was danach kommt. Der Ort, wo dieses Geschehen am hellsten loderte und wo es noch Jahrtausende später schwelt, ist der Ort, den wir Götterfall nennen — und der bei Eurem Volk Südmark heißt. Ja, Prinz Barrick, Eure Heimat.
Barrick starrte ihn verwirrt an. Wollte der Elbe sagen, dass die Götter in Südmark gelebt hatten? Oder dort gestorben waren? Das war ein derart bizarrer Gedanke, dass er schon befürchtete, wieder zu träumen.
Vor wenigen Jahren erst,
fuhr Gyir fort,
begannen uns die Stimmen zu warnen, dass der Schlummer der Götter in ihrem Exil sehr flach und fragil geworden sei. So wie der Mond auf die irdischen Gezeiten einwirkt, wenn er uns nahe kommt, und dabei das Blut der Empfänglichsten in Unruhe versetzt, sind uns die Götter jetzt selbst im Schlafe näher, als sie es jemals waren, seit sie aus dem Land des Wachens vertrieben wurden.
Gyir hielt inne, um einer Frage von Vansen zu lauschen.
Nein, mehr kann ich jetzt nicht darüber sagen. Es genügt zu wissen, dass die Götter aus dem Land des Wachens vertrieben wurden und dass sie lange Zeit verschwunden waren, fast so, als wären sie tot.
Jetzt aber rücken die Götter nahe und drängen sich in die Gedanken und Träume sowohl Eures als auch meines Volkes und machen sich noch in vielerlei anderen Dingen bemerkbar. Das wäre schon erschreckend genug — und auch gefährlich, weil die Götter selbst in ihrem ewigen Schlaf noch kleines wie großes Unheil zu stiften vermögen und sich danach sehnen, zurückzuerlangen, was ihnen gehörte. Doch durch einen schlimmen Zufall ist diese unheilvolle Stunde just zu dem Zeitpunkt gekommen, da den Hohen meines Volkes bereits etwas anderes Schreckliches widerfuhr, etwas, das das gesamte Haus des
Volkes
in Trauer und Entsetzen stürzte. Unsere Königin Saqri, die Herrin des alten Gesangs, liegt im Sterben.
Barrick hatte den Elben noch nie heftigere Gefühle zeigen sehen, doch jetzt bekundete der Schmerz in Gyirs Gedanken ganz deutlich, dass ihn das, was er sagte, bis ins Mark traf.
Die Hohen,
fuhr Gyir schließlich fort,
zumindest jene in der Linie der Feuerblume, sterben nicht so, wie Sterbliche sterben. Wir können alle ein gewaltsames Ende finden, und wir werden Opfer von Krankheiten und Unfällen genau wie Ihr Sonnländer, aber jene aus unserem höchsten Haus wie Saqri und Ynnir sind nicht wie die
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