Das Spiel
letzten Tage und Nächte: Sobald Olin der Burg entronnen war, hatte sein Leiden nachgelassen — so stand es zumindest in seinen Briefen. Barrick dagegen war in den Klauen eines schlimmeren Wahnfiebers, als er es zu Hause jemals erlebt hatte.
Er schloss die Lider fest, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Ein leises Schlurfen ließ ihn die Augen wieder aufreißen. Die letzte Schicht Arbeitssklaven war gerade in den Hauptkerker zurückgekehrt, und eines der affenartigen Wächterwesen kam direkt auf ihre Zelle zu. Gyir, der, das Kinn auf der Brust, in einer Ecke gelehnt hatte, blickte langsam auf. Barricks Herz raste — was konnte der Wächter wollen? Stand jetzt das Blutopfer bevor, das Gyir befürchtete?
Die Kreatur blieb vor dem Gitterfenster stehen und sperrte fast alles Licht aus. Gyir ging zur Tür, jetzt plötzlich mit einer flinken, anmutigen Leichtigkeit, die Barricks Angst ein wenig besänftigte: Er hatte die Bewegungen des Elfen einigermaßen lesen gelernt, und jetzt sagten sie nicht
Gefahr,
sondern nur
Vorsicht.
Der tierähnliche Wächter stand schweigend da, das Gesicht gegen die Gitterstäbe gepresst. Nichts Sichtbares geschah zwischen der Kreatur und Gyir, doch etwa ein Dutzend Herzschläge später schüttelte sich das zottige Wesen und wandte sich dann, einen verwirrten, vielleicht sogar erschrockenen Ausdruck im nichtmenschlichen Gesicht, wieder zum Gehen.
In den nächsten Stunden und Tagen wiederholte sich dieses Ritual an vielen weiteren Wächtern und etlichen zurückkehrenden Gefangenen, während Barrick fasziniert zusah. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, was das mit Gyirs Andeutungen wegen des Schießmehls zu tun hatte, da von dem schwarzen Pulver nichts zu entdecken war. Es war vielmehr, als verfolgte man die Bronze-Zeremonie am Hof von Südmark, bei der die obersten Adligen der Markenlande erschienen und ihre Waffen dem auf dem Wolfsstuhl thronenden König zu Füßen legten, wobei ihre Namen auf einer Bronzetafel vermerkt wurden, die der Mantis dann anschließend segnete und in der Gruft im großen Trigonatstempel deponierte. Aber die Bestien von Große Tiefen brachten, soweit Barrick sehen konnte, dem Elben weder etwas, noch nahmen sie etwas mit.
Ihm wurde klar, dass schon fast ein Jahr vergangen war, seit König Olin die Bronze-Zeremonie durchgeführt hatte, ehe er zu seiner verhängnisvollen Reise aufgebrochen war. Er fragte sich, ob dieses Jahr Briony den Hütern der Marken den Lehnseid abnehmen würde, und plötzlich überkam ihn so gewaltiges Heimweh, dass er beinah in Tränen ausgebrochen wäre, gefolgt von einer Welle von Selbsthass ob seiner eigenen Hilf- und Nutzlosigkeit.
Schaut mich doch an! Ich liege hier herum wie ein Kind, tue nichts und warte nur auf den Tod. Und was für ein Tod wird das sein? Der Tod eines Kriegers? Der Tod eines Königs oder wenigstens eines Prinzen? Nein, er trägt die Gestalt eines Mädchens, eines rehäugigen Mädchens voller Mitgefühl, und ich warte auf sie wie ein verliebter Barde, ein alberner ... Poet.
Dann, der Gedanke wie Feuer in seinen Eingeweiden:
Und selbst sie denkt, dass ich aufgegeben habe — dass ich ein Feigling bin.
Barrick mühte sich in den Stand und ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Arm, der immer dann am schlimmsten war, wenn er Hand und Arm nach dem Aufwachen zum ersten Mal bewegte. Er ging zu Gyir hinüber und setzte sich neben ihn. Der Elbe, der, seit der letzte Besucher oder Vasall davongeschlurft war, mit geschlossenen Augen dagesessen hatte, als schliefe er, öffnete jetzt die Lider und fixierte Barrick mit seinem glimmenden Blick.
Ihr braucht nicht neben mir zu sitzen, um mit mir zu reden. Ich könnte schon fast vom Haus des
Volkes
aus mit Euch sprechen. Ihr werdet mit jedem Tag stärker.
Warum kommen diese Wärter und anderen Wesen zu Euch?,
fragte Barrick.
Ich unterweise sie in dem, was ich brauche,
sagte Gyir.
Mehr will ich nicht sagen, da wir mit diesem Versuch alles riskieren.
Barrick saß eine Weile still da und dachte nach.
Warum geschieht das alles gerade jetzt?,
fragte er schließlich.
Nicht das, wonach ich eben gefragt habe, sondern ... alles.
Präzisiert Eure Frage, bitte.
All das, was vorher nie geschehen ist oder jedenfalls schon Hunderte von Jahren nicht mehr — dass die Schattengrenze sich verschiebt, dass Eure Leute Südmark angreifen und Krieg gegen mein Volk führen. Und dass dieser Kettenjack, dieser Halbgott, oder was er auch immer sein mag, Kernios' Palast ausgräbt. Ihr
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