Das Spiel
halben Tagesritt entfernt sein.« Vansen schüttelte den Kopf, noch immer verblüfft. Der schaurige alte Name Nordmark erinnerte ihn daran, dass das, was dort und hier in Aalingshull geschehen war, bald allen Menschenstädten des Nordens widerfahren konnte — auch Südmark selbst. »Kaum zu fassen, was?«
Barrick sagte nur achselzuckend: »Sie gehörten nicht hierher. Keine Sterblichen gehörten hierher. Sie hatten sich alle ohne Erlaubnis hier niedergelassen. Kein Wunder, dass es so weit kam.«
Vansen konnte nur hinterherstarren, als der Prinz sein Pferd wendete und weiterritt. Gyir, der hinter ihm saß, sah sich noch einen Augenblick um, und sein glattes Gesicht war so unentzifferbar wie immer.
»Hat blau im Dunkeln gebrannt, sechs Nächte lang, als es fiel«, sagte Skurn. »Als wär ein alter Stern hier in den Wald gefallen. Der Hüter des Kriegssteins hat diesen den Flüsternden Müttern gegeben, wisst Ihr.«
Vansen schauderte, als sie die Mauern von Aalingshull hinter sich ließen. Er wusste nicht, was der Rabe meinte, und war sich ziemlich sicher, dass es besser für ihn war.
Der Regen ließ nach, als es Vansens Schätzung nach später Nachmittag sein musste, wenn auch am trüben Himmel noch immer kein Schimmer von Sonne oder Mond zu sehen war, der ihm einen Anhaltspunkt hätte liefern können. Er hatte dem hungrigen Raben von seinen letzten Vorräten zu fressen gegeben und selbst an einem Stück altbackenem Brot und einem fingerbreiten Streifen Trockenfleisch herumgenagt, aber allmählich verspürte er wühlenden Hunger. Da der Prinz jetzt etwas weniger seltsam und abwesend wirkte und ein ganzer Tag vergangen war, ohne dass der monströse, gesichtslose Gyir sie beide zu töten versucht hatte, war Vansens Angst etwas abgeflaut, aber das hatte nur zur Folge, dass ihm seine übrigen Probleme umso bewusster wurden. Die Gefahr zu verhungern war eines davon, wenn auch nicht das größte.
Ich werde ganz und gar von etwas bestimmt, das ich weder verstehe noch ändern kann,
dachte er.
Das ist noch schlimmer, als wenn mich diese Schattenwesen gefangen genommen hätten. Dann wäre es ja nur normal, wenn ich hilflos ausgeliefert wäre. Aber das hier — das ist viel schlimmer! Hinter uns liegt die Heimat, es gibt keinen Grund, immer weiter in diese Lande des Wahnsinns hineinzureiten, und doch tun wir es, und ich kann es nicht verhindern.
»Wir können dieser Straße nicht weiter folgen, Herr«, sagte Skurn plötzlich. Sein Schnabel zerrte an Vansens Ärmel. »Unmöglich.«
»Was? Warum?«
»Die Nordmärkerstraße, Herr, das ist die Nordmärkerstraße, und Skurn riecht Nordmark zu dicht in der Näh. Unsereins sagte doch schon, dass wir bald in Kettenjacks Land kommen.« Der Vogel zwinkerte nervös. Er hüpfte auf dem Pferdehals herum, fast schon komisch in seiner Angst. »Da ist alles Böse los, heutzutag.«
Die Nordmärkerstraße! Natürlich, dachte Vansen, kein Wunder, dass es sich hier so viel leichter reiten ließ als auf anderen Wegen, denen sie gefolgt waren. Unter sich sah er nichts als niederen Bewuchs, Gras und altes Laub, aber dennoch sträubten sich ihm die Haare. Zu wissen, dass da diese Straße lag, schon seit vier Stunden — das war, als hätte er plötzlich gemerkt, dass er auf einem Grab stand. Trotzdem wollte ein Teil von ihm dieses bequeme Vorankommen nicht gegen unwegsames Gelände eintauschen. »Der Name macht schaudern, ja, aber das Land selbst ist doch wohl seit Ewigkeiten leer und verlassen.«
»Ihr versteht nicht, guter Herr.« Skurn flatterte unruhig mit den Flügeln. »Sie sind
nicht
leer, diese Lande. Sie gehören Kettenjack, und wenn er Euch kriegt, ist das Mindeste, was passiert, dass Ihr Euer Leben los seid.«
Vansen berichtete Barrick, was der Vogel gesagt hatte. Der Prinz verharrte ganz still, als lauschte er auf etwas, das Gyir ihm sagte, und nickte dann schließlich bedächtig.
»Wir werden unser Lager aufschlagen. Es gibt viel zu entscheiden.«
Barrick Eddon wusste: Vor Tagen noch, in einer gewöhnlichen Welt, wo die Sonne auf- und wieder unterging, hätte er den Zwielichtler Gyir als eine abscheuliche, fremdartige Kreatur betrachtet, aber irgendwie war es dahin gekommen, dass er Gyir, das Sturmlicht, jetzt besser kannte als irgendeinen Menschen, seine eigene Familie eingeschlossen.
Außer Briony, natürlich — Briony, seine andere Hälfte ... Barrick tat sein Bestes, den Gedanken an sie wegzuschieben. Wenn er überleben wollte, musste er hart sein, hatte er
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