Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
Gänsehaut davon bekommen konnte. Über sich erahnte Lucas nichts als Schwärze. Aber von unten schien ein flackerndes Licht. Beinah instinktiv folgte er ihm.
Auch die Außentür des Beauchamp Tower erwies sich als unverschlossen. Behutsam stieß Lucas sie auf, trat ins Freie und gelangte über eine kurze Treppe in den Innenhof hinab. Die Nacht war finster. Er schaute zum Himmel auf und entdeckte keinen Mond. Nur ein paar milchige Sterne blinzelten durch den ewigen Dunst über London. Die Wiese mit der Hand voll mickriger Birken, die den Tower Green ausmachten, lag still und dunkel zu seiner Rechten. Kein Windhauch regte sich in dieser heißen Sommernacht, und Lucas war sich vage bewusst, dass Schweiß auf seiner Stirn und den Schläfen stand.
Jenseits der kleinen Grünanlage sah er wieder ein Licht flackern, und allmählich wurde ihm klar, dass irgendwer ihn mit diesen Lichtern verleiten wollte, in eine bestimmte Richtung zu gehen, so wie Roland in Waringham die ungezähmten Gäule mit einer Fährte aus Fallobst von der Weide lockte. Doch es galt nach wie vor: Er hatte nichts Besseres vor, und ganz gleich, wohin er ging, im Tower war er nicht Herr seines Schicksals. Also bat er die Heilige Jungfrau, welche die besondere Beschützerin der Durham war, um Beistand und überquerte den Rasen mit klopfendem Herzen.
Er hatte die Eingangstür des Turms auf der anderen Seite fast erreicht, als er murmelnde Stimmen vernahm. Lucas drängte sich in den Schatten, presste sich an die Turmmauer, als wolle er mit ihr verschmelzen, und hörte auf zu atmen. Vier Männer kamen auf dem Weg zum Haupttor an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Sie sagten nicht viel, und sie schienen in Eile. Die Kerze, die der vorderste trug, war ihr einziges Licht, und er hielt eine Hand darum, als wolle er vermeiden, dass es zu hell leuchtete. Keine zwei Schritte von ihm entfernt passiertensie Lucas, und er erkannte den Mann mit der Kerze. Es war Sir James Tyrell, ein Ritter aus Suffolk. Das Gesicht war Lucas vage vertraut, denn früher einmal war Tyrell Lancastrianer gewesen. Aber irgendwann hatte er die Seiten gewechselt, König Edward hatte ihn nach der Schlacht von Tewkesbury zum Ritter geschlagen, und seit ein paar Jahren war er Richard of Gloucesters Vertrauter und, wie man hörte, sein Mann für delikate Angelegenheiten. Lucas hatte keine Chance, die anderen drei zu erkennen, und er wartete, bis sie im Torhaus verschwunden waren. Dann glitt er die Stufen hinauf und betrat den Turm.
Die Fährte aus spärlichem Licht führte ihn die Treppe hinauf. Lucas folgte ihr zögernd, und er musste feststellen, dass er Mühe hatte zu schlucken. Die Flammen der Fackeln flackerten in einem Luftzug, von dem er nicht das Geringste spürte, und es war so still wie in einer Gruft. Lucas konnte sich nicht entsinnen, sich je so gegruselt zu haben. Gruseln war nicht einmal der richtige Ausdruck, gestand er sich ein. Ihm graute. Denn er wusste, wer in diesem Turm untergebracht war, und er fürchtete sich so sehr vor dem, was er am Ende der Treppe vorfinden würde, dass seine Beine den Dienst zu versagen drohten.
Er kam an eine angelehnte Holztür. Mit kraftlos herabbaumelnden Armen stand er davor, den Kopf gesenkt, und betete, er möge sich irren. Dann hob er eine Hand und stieß die Tür auf.
Das Gemach war größer und luxuriöser als sein eigenes. Drei Kerzen in einem güldenen Leuchter brannten auf dem Tisch, beschienen zwei beinah unberührte Teller mit erlesenen Speisen und eine Schachpartie, die nach den ersten Zügen unterbrochen worden war. Lucas trat wie ein Schlafwandler über die Schwelle. Er wollte nicht, aber seine Füße trugen ihn wie von selbst.
Die Insel aus Licht erreichte auch das kostbar geschnitzte Bett mit den schweren blauen Vorhängen. Sie waren zurückgeschoben und gaben den Blick frei auf die beiden Knaben, diereglos nebeneinander lagen. Doch sie schliefen nicht. Edward, der Prince of Wales, lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken. Die hübschen blonden Locken umrahmten ein wächsernes Gesicht, dessen Haut eine bläuliche Tönung aufwies. Er war erstickt. Sein kleiner Bruder, Richard of York, lag mit dem Rücken zu Edward auf der Seite, die Knie bis an die Brust gezogen, das blutgetränkte Laken unter ihm zerwühlt. Ihm hatten sie den Schädel eingeschlagen, mit so barbarischer Kraft, dass das zarte Gesicht grotesk zusammengeschoben wirkte. Seine Augen waren geschlossen, und die langen Wimpern schimmerten im Kerzenlicht.
Lucas
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