Das Spiel der Nachtigall
sie könne jederzeit nach Hause kommen, wenn sie Vernunft annähme. »Aber er hat nicht gesagt, was du so Unvernünftiges tust«, fügte Paul offen hinzu. »Vor allem im Haus des Salzhändlers. Ganz ehrlich, Base, ich war enttäuscht, als ich hörte, dass du hier bist. Ich habe gedacht, du bist vielleicht mit dem Minnesänger fortgelaufen, um Drachen zu finden. Nun – keine Drachen. Die gibt es nicht, das weiß ich jetzt. Aber das Horn vom Einhorn ist doch ein Arzneimittel, nicht wahr? Also dachte ich …« Er stockte. »Ein Abenteuer. Ich dachte, du erlebst ein Abenteuer.«
Es war ausgesprochen hinterhältig von Stefan, seinen großäugigen Sohn zu schicken, dem sie weder die Wahrheit sagen noch einfach abweisen konnte. Doch auch sie konnte denken. Pauls Erwähnung von Walther war eine Hilfe. Wenn Walther, dachte Judith, von seinen Liedern leben kann, wenn er immer wieder Gönner findet, an deren Höfen er lebt, dann muss mir das mit meinem Heilwissen doch auch gelingen.
»Paul«, sagte sie, »warst du schon einmal in Andernach?«
»Einmal«, sagte er stolz, »als der Vater mich mitgenommen hat. Seine Gnaden der Erzbischof residiert manchmal dort.«
»Würdest du dir zutrauen, nach Andernach zu gehen und Gilles eine geheime Botschaft von mir zu geben? Er bewacht dort zwei Geiseln für den Erzbischof. Wenn du es dir nicht zutraust, dann verstehe ich das. Es könnte gefährlich werden, und wenn du nach Köln zurückkehrst, wird dein Vater mit Sicherheit wütend auf dich sein.«
Paul strahlte und schwor, gerne ihre Botschaft zu überbringen. Es war Judith bewusst, dass sie gerade genau das tat, was sie ihrem Onkel vorgeworfen hatte: Sie benutzte jemanden zu ihrem eigenen Vorteil. Doch im Gegensatz zu dem, was sie gerade gesagt hatte, bestand für Paul keine Gefahr. Als Sohn Stefans würde er ohne weiteres bis zu Gilles und den Geiseln vorgelassen werden, die ja keine Gefangenen im schlechten Sinn des Wortes waren und wie Gäste untergebracht sein würden. Nach seiner Rückkehr hatte er mit nicht mehr als mit väterlichem Grimm zu rechnen, wie jeder Junge in seinem Alter, der zwei Tage ohne Erlaubnis anderswo verbracht hatte.
Zuerst wollte sie ihr Wachstäfelchen opfern und Gilles schreiben, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht wusste, ob er lesen konnte. Es versetzte ihr einen Stich, weil es Stefans Vorwurf über ihre Unüberlegtheit und ihren Mangel an Wissen über die Menschen, denen sie sich anvertraute, bestätigte, ein wenig zumindest. Aber daran ließ sich jetzt nichts ändern. Also wählte sie sich ein paar Sätze aus, die Paul behalten konnte und die für die meisten Leute nichts weiter bedeutet hätten als das, was auf der Oberfläche lag.
»Wieso sind Stellen aus der Bibel eine wichtige geheime Botschaft?«, fragte Paul verwundert.
»Wenn du das wüsstest, wäre sie nicht mehr geheim. Aber ich verspreche dir, wenn alles vorbei ist, dann wirst du erfahren, worum es ging.«
Kapitel 20
U nter Leopolds Regentschaft hatte der Hof in Wien nichts an seiner Betriebsamkeit und seinem Glanz verloren. Wie es schien, war Philipp nicht der Einzige, dem Bischof Wolfger Boten gesandt hatte: Die Nachricht von der Krankheit seines Bruders hatte ihn bereits erreicht, und noch mehr als das.
»Seine Heiligkeit der Papst ist gestorben«, sagte Leopold, »und die Kardinäle sind zusammengetreten, um seinen Nachfolger zu wählen. Ich bin natürlich willens, Herzog Philipp zu unterstützen, doch gewiss kann es nicht schaden, zu warten. Der nächste Papst wird gewiss das Seine zur Wahl unseres neuen Königs zu sagen haben.«
Wenn Walther nicht innerhalb des letzten Jahres wiederholt die Gelegenheit gehabt hätte, mit mehreren Fürsten über die Angelegenheiten des Reiches zu sprechen, hätte er sich vielleicht daran erinnert, dass Leopold um einiges empfindlicher und adelsstolzer als Friedrich war und weit weniger für spitzzüngige Scherze empfänglich. Stattdessen sagte er unüberlegt genau das, was er dachte: »Wenn man bedenkt, was es derzeit kostet, um vom Erzbischof von Köln eine Empfehlung für eine Wahl zu hören, weiß ich nicht, ob es eine gute Idee ist, den Papst dazu zu befragen, Euer Gnaden.«
Leopold starrte ihn ungläubig an. Unter den Höflingen um ihn lachten ein oder zwei, nur kurz, bis auch sie in das eisige Schweigen ihres Herrn einstimmten.
»Ich will hoffen, dass eine derartig respektlose Bemerkung über den Heiligen Vater nie wieder über Eure Lippen dringt, Herr Walther«, sagte
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