Das Spiel der Nachtigall
Grund dafür angeben, Braunschweig zu besuchen, geschweige denn, sich dort anzusiedeln, als sie die Stadt betrat. Es war zum ersten Mal seit längerer Zeit nötig, die Urkunde vorzuweisen, die sie in Salerno erhalten hatte. Die Siegel und Namen zu sehen, berührte sie eigenartig; sie fragte sich unwillkürlich, ob sie Salerno wohl je wiedersehen würde.
Selbstverständlich, versicherte Judith sich. Wenn Otto besiegt ist, dann kann ich mit Gilles nach Salerno ziehen.
Nur einer der Stadtwächter konnte lesen, und das nicht sehr gut. Doch sie zeigten sich genügend beeindruckt von den Siegeln, um »den Arzt Gilles und seine Gemahlin Judith« passieren zu lassen. Man wies sie aber darauf hin, dass ein längerer Aufenthalt in Braunschweig davon abhing, ob bewährte Bürger für sie sprechen würden.
Gilles entdeckte bald jemanden, den er kannte und der in Braunschweig lebte. Jener Robert war selbst ein gestrandeter Krieger; als der Pfalzgraf vom Kreuzzug zurückkehrte, hatte er wegen der Unruhen in Italien hastig alle ungebundenen Kriegsknechte angeworben, um seinen Tross zu verstärken und sicher zurückkehren zu können. Judith kannte niemanden, doch sie fand heraus, dass etwa fünfzig Juden in Braunschweig lebten. Es war kein Arzt darunter, dafür aber ein Rabbi aus Spanien, der einmal mit Mosche ben Maimon selbst diskutiert hatte und dessen philosophische Schriften übersetzte. Er sammelte alle Werke Rabbi Mosches, derer er habhaft werden konnte, also war er bereit, Judith gegen ihr Exemplar der Schrift über das Asthma eine Unterkunft zu besorgen und für sie zu sprechen. Sie brachte ihn auch dazu, für diese Unterkunft zu bezahlen, doch ihr Herz blutete, als er zufrieden sagte: »Niemals würde ich mich von einem solchen Schatz trennen! Das bringt nur eine Frau fertig.«
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Doch die Unterkunft und einen Bürgen in Braunschweig zu haben, versetzte sie in die Lage, wieder als Ärztin zu arbeiten, und das war wichtiger als der Besitz eines Buches, das sie fast auswendig kannte. Das sagte sie sich wenigstens.
Gilles fand über seinen alten Freund schnell eine Beschäftigung bei der Stadtwache, und dank des Rabbis dauerte es nicht lange, bis Judith ihre ersten Patienten hatte. Manchmal zitterten ihr immer noch die Hände, selbst, wenn sie nur etwas Einfaches tat, wie einen verstauchten Knöchel einzusalben und zu verbinden. Während der Behandlung selbst ließ sie sich nichts anmerken, doch sie hütete sich immer noch vor Schwangeren.
Bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft kam es zu einer Begegnung, die Judith immer erwartet, von der sie aber irgendwie gehofft hatte, diese vermeiden zu können. Es fing alles normal an – mit einem Klopfen an der Tür. Als Judith öffnete, stand dort eine Frau, etwas älter als sie, mit selbstsicherem Auftreten, einem hübschen Gesicht und guter Kleidung. Die Besucherin stellte sich als Maria aus Braunschweig vor. »Seid Ihr die Magistra aus Salerno?«
Judith bat die Frau herein, froh, dass die Hemmschwelle zu ihr als neuer Ärztin selbst bei den wohlhabend erscheinenden Frauen so schnell gebrochen schien. Was sie überraschte, war der neugierige und selbstbewusste Blick, als die Frau ihre Kammer betrat, der so überhaupt nicht in das Muster ihrer bisherigen Patientinnen passte, die meist verängstigt und scheu wirkten, wenn sie nicht wie Irene meinten, eine gewisse Überheblichkeit zum Ausdruck bringen zu müssen. Deshalb begann sie auch nicht sofort mit den üblichen Fragen »womit kann ich Euch helfen« oder »woran fehlt es Euch«, sondern sagte: »Ihr macht mich neugierig, werte Dame. Seid Ihr Euretwegen oder als Botin zu mir gekommen?«
Sie freute sich über die Antwort, Maria käme für sich selbst, und dachte, es würde sich lohnen, diese Frau als Freundin zu gewinnen. Judith erkundigte sich daher zunächst, ob Maria in Braunschweig geboren sei, in welchem Bezirk sie wohne und wie es ihr dort gefiele. Es entging ihr nicht, dass sie besonders aufmerksam gemustert wurde, als Maria die Straße nannte, wusste aber als Neuling in der Stadt nichts damit anzufangen. Es entspann sich ein Gespräch, das beiden Spaß zu machen schien, bis Judith dann doch die entscheidende Frage stellte: »Was kann ich für Euch tun?«
»Ich habe eine Entzündung am Hintern.«
Judith war daran gewöhnt, dass eine solche Aussage unsicher vorgetragen wurde oder voller Schamgefühl, auch wenn es dazu keinen Grund gab. Doch wieder wurde sie
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