Das Spiel der Nachtigall
einmal, was es bedeutete, zu schwimmen.«
Wieder lag ihr die Bemerkung auf der Zunge, dass es in der Welt viele Flüsse gab und gar manchen Lehrer für die Kunst des Schwimmens. Doch leider fehlte ihr der Zorn, der sie in der Vergangenheit befähigt hatte, ihre Zunge wie eine Klinge gegen ihn zu führen. Einen Menschen, den man mochte, nicht verletzen zu wollen, war wie ein Fischernetz, das einen fesselte, lähmte und entwaffnete.
Nein, nicht lähmte, bestimmt nicht. Sie fühlte sich alles andere als gelähmt; sie fühlte sich so lebendig wie selten, außer wenn ihr ein besonders schwieriger Eingriff oder eine ausgesucht komplexe Mixtur gelang, doch selbst dann war dem berauschenden Gefühl, am Leben zu sein, kein Hunger auf mehr beigemischt, so wie jetzt.
Eine alte Redensart fiel ihr ein, etwas, mit dem die Lehrer in Salerno prahlende Studenten herausforderten. Es war die Geschichte eines griechischen Fünfkämpfers, der immer wieder und wieder über seine Leistungen bei einem Weitsprung in Rhodos tönte, bis die Leute genug von seiner Prahlerei hatten und ihn aufforderten, sich an Ort und Stelle zu beweisen.
»Hier ist Rhodos, springe hier«, murmelte Judith. Dann schloss sie die Handbreite, die als Abstand zwischen ihnen verblieben war, und nahm sich seinen Mund.
Botho war zwar willens, Judith und Gilles mit ihnen reisen zu lassen, bestand aber darauf, dass die beiden im Wagen blieben, den er in Braunschweig für Bischof Konrad erworben hatte. »Seine Gnaden wartet in einem Kloster bei Frankfurt, um mit uns weiter nach Würzburg zu ziehen. Ob er Euch gestatten wird, mit ihm zu reisen, bleibt dahingestellt. Was ich auf jeden Fall vermeiden will, ist Unruhe bei meinen Männern.«
»Ich bin schon öfter in Gruppen gereist«, sagte Judith, »und nie …«
»Nun, das war sicher, bevor sich Euer Gemahl als Liebhaber von Männern herausgestellt hat. In Braunschweig hat jedermann nach seiner Flucht von nichts anderem mehr gesprochen. Mir ist’s gleich, aber ein Teil von meinen Leuten wird deswegen hinter seinem Hintern her sein und ein Teil hinter Eurem. Deswegen reist Ihr beide im Wagen, oder Ihr reist nicht mit uns.«
Sie wusste nicht, ob sie diese Worte als mehr beleidigend oder lächerlich empfand, aber es war unwahrscheinlich, dass sie so schnell einen weiteren Tross auf dem Weg nach Franken finden würden. Daher fand sie sich mit Gilles und einem Haufen Gepäck im Wagen wieder, der noch nicht für den Bischof mit mehreren Lagen Fellen ausgestattet worden und daher sehr unbequem war.
»Du siehst glücklich aus«, sagte Gilles zu ihr.
»Wir sind umgeben von einem Haufen Narren, denen ihr Anführer zutraut, einem von uns beiden Gewalt anzutun, der Weg ist noch nie befestigt worden, und mir wird bei jedem Schlag des Rades etwas schlechter«, protestierte Judith.
Gilles schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Ja, aber du siehst trotzdem glücklich aus.«
Sie errötete und fragte sich sofort schuldbewusst, wie er sich fühlen musste; der Tod von Robert lag erst drei Wochen zurück. Außerdem war sie zwar nicht seine Gemahlin im üblichen Sinn, doch sie war alles, was er hatte.
»Ich … ich weiß nicht, ob ich glücklich bin«, sagte sie. Ohne darüber nachzudenken, fuhr sie mit ihren Fingern über ihre Lippen. »Es ist alles so neu für mich.«
»Neu?«, fragte er überrascht. »Ich dachte in Köln, da wäre schon etwas gewesen. Dein Onkel auch. Hat mich eigens darauf hingewiesen und gesagt, ich solle auf meine Frau achten.«
Diesmal war die Röte, die ihr in die Wangen stieg, die des Zorns. Was für ein Heuchler, dachte sie aufgebracht: Nur Stefan brachte es fertig, ihr einerseits Geschichten von Esther und König Xerxes zu erzählen und andererseits ihren Gatten zu ermahnen, auf ihre Tugend zu achten.
»Mein Onkel?«, begann sie wütend. »Wenn er so mit dir gesprochen hat, warum hast du nie etwas davon zu mir gesagt?«
Im Halbdunkel des Wagens konnte sie gerade noch erkennen, dass Gilles’ Augen sich weiteten. »Es hätte dir nur Kummer gemacht«, sagte er. »Bitte, sei nicht wütend auf mich.« Judith rückte näher und legte ihm einen Arm um die Schultern.
»Du bist der beste Freund, den ich je hatte, Gilles. Ich werde nie etwas anderes als froh sein, dass es dich gibt.«
»Und wenn dein Sänger dich ganz für sich haben will?«
»Er ist nicht mein Sänger«, sagte Judith. »Er ist – Walther. Und ich weiß noch überhaupt nicht, was … ob ihn nicht vor Ende des Jahres der Wind irgendwo anders
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