Das Spiel der Nachtigall
weismachen, dass ich mit meiner Geliebten durchgebrannt bin, aber dann hätten wir keine Erklärung für Gilles gehabt. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.«
Judith schaute auf, als er schwieg. Er hatte seine Arme verschränkt, und ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. »Was war es?«
»Rate«, sagte er vergnügt. Man brauchte kein Meister des Scharfsinns zu sein, um zu spüren, dass er Freude daran hatte, sie zu necken. Es erinnerte sie an die lang entfernten Tage in ihrer Kindheit, ehe ihre Geschwister und die Mutter gestorben waren. Als Junge musste Walther gleichzeitig unerträglich und wunderbar gewesen sein. Leider konnte sie Markwart nicht danach fragen, da er ihr aus dem Weg ging.
»Du hast zugegeben, einen Gefangenen befreit zu haben, weil es dir ein Vergnügen war, die Torwächter zu täuschen«, gab Judith zurück. Walther machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Nein, das hätte mir nie jemand geglaubt, das wäre viel zu unwahrscheinlich. Da könnte ich ja gleich sagen, ich sei ein Sänger mit dem Ehrgeiz, den Lauf der Welt zu beeinflussen, und doch zu dumm, eine Weise zu finden, die mir Gehör bei der einzigen Frau verschafft, auf die es mir ankommt.«
Es war leichthin als Teil seiner Neckerei gesagt, aber Judith hörte es wohl, und sie dachte, dass Walther vielleicht auf diese Weise am besten Geständnisse machen konnte: indem er ein inneres Anliegen als Scherz darbot. Vielleicht … vielleicht war dies ein Weg, den auch sie gehen konnte. »Das ist in der Tat geradeso wenig glaubhaft«, entgegnete sie im gleichen Tonfall, »wie eine Jüdin aus Köln, die als Ärztin vieles an anderen Menschen verstehen kann, aber nicht ihr eigenes Herz.«
»Seid Ihr jetzt fertig, Magistra?«, fragte der Kaufmann auf Latein. »Wer ist dieser Mann?«
»Walther von der Vogelweide, zu Euren Diensten«, sagte Walther in der gleichen Sprache. »Auch ich brauche die Magistra. Mit meinem Gehör stimmt etwas nicht – ich glaube, ich höre Dinge, die ich noch nie vernommen habe.«
Der Kaufmann schaute von Walther zu Judith, brummte »Bah« und drückte ihr, nachdem sie das Auflegen des Verbandes beendet hatte, zwei Münzen in die Hand.
»Was also hast du den Würzburgern gesagt?«, fragte Judith, während ihr Herz hämmerte und sie bereits befürchtete, sich mit ihren Worten zu weit über die Brüstung eines hohen Turms hinausgelehnt zu haben. Außerdem sollte sie es wissen, ehe sie selbst einem der Leute Bischof Konrads über den Weg lief.
»Dass die Pfalzgräfin mich mit der heiklen Aufgabe betraut hat, so schnell wie möglich einen Mann aus der Stadt zu schaffen, den ihr Gatte weder tot sehen wollte noch weiter im Gewahrsam von Menschen, denen Gilles unliebsame Geschichten aus Aquitanien erzählen könnte.« Er lachte. »Wenn der Ruf der Welfen nun auch Gerüchte über deren Vorliebe für Männer beinhaltet, ist es mein Verdienst«, schloss Walther reuelos. Er trat näher an sie heran. »Aber das ist keine Auskunft, die dir hilft, dein Herz besser zu verstehen.«
Es wäre möglich, ihn mit einer spitzen Bemerkung abzufertigen; Judith hatte ein Dutzend zur Hand. Es wäre auch möglich, einfach zu schweigen und davonzugehen. Aber beides wäre unehrlich und eine Flucht gewesen. Und wenn es nicht wortwörtlich um ihr Leben oder das eines anderen Menschen ging, wollte Judith nicht mehr fliehen.
»Ich glaube nicht an Worte, die alles entschlüsseln können, was wir in uns verbergen«, sagte sie. »Und ich glaube, dass nichts gefährlicher ist als eine zu schnelle und falsche Diagnose. Walther, ich habe Menschen gesehen, die fürs Leben verstümmelt wurden, weil ein Arzt zu wissen glaubte, was ihnen fehlte, und nicht bedachte, dass er sich irren könnte.«
Er trat noch etwas näher an sie heran. Sie konnte erneut die Sommersprossen auf seiner Nase zählen, die kleinen Fältchen, die sich um seine grünen Augen gebildet hatten, obwohl er noch jung war. Sie konnte sogar den Rauch des Kaminfeuers an ihm riechen, das in der großen Spitalhalle brannte, wo er vor den anderen Reisenden gesungen hatte.
»Und ich«, sagte Walther, »habe Menschen ihr Leben an einem Ufer verträumen sehen, weil sie nie den Mut hatten, ins kalte Wasser zu springen, um herauszufinden, wohin der Strom sie trägt. Vielleicht war der Fluss voller Tücken, ja, aber vielleicht hätte er sie auch an einen besseren Ort gebracht. In jedem Fall fanden sie es nie heraus. Nicht, wohin der Fluss sie gebracht hätte, und noch nicht
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