Das Spiel der Nachtigall
berühmteste Arzt des Erdkreises«, entgegnete ihr Vater trocken. »Ich bin nur Josef ben Zayn. Deswegen lebt er am Hof Saladins in Kairo, und ich habe Glück, wenn die Kaufleute Kölns, die sich von mir behandeln lassen, auch tatsächlich zahlen, statt ihren Erzbischof zu bitten, sie von ihren Schulden bei dem Juden zu befreien.« Aber er sagte nicht, dass sie unrecht hatte. Ihr Vater hatte alle medizinischen Schriften des Mannes gelesen, den die Christen Maimonides nannten. Sie waren in der arabischen Sprache verfasst, mit der Rabbi Mosche in Cordoba aufgewachsen war. Judith hatte vor fünf Jahren, als ihr letzter Bruder gestorben war, begonnen, Arabisch zu lernen, um es ihrem Vater eines Tages gleichtun zu können, doch es gab für sie keine Möglichkeit, die Sprache mit einem anderen als ihm zu üben, und er selbst hatte sie so viele Jahre nicht mehr gesprochen, dass er vieles vergessen hatte. Das würde sich ändern, wenn sie beide Salerno erreichten, doch bis dahin musste sie sich damit abfinden, nur Bruchstücke von Rabbi Mosches Weisheiten lesen zu können. Immerhin gab es die Möglichkeit, von Besuchern, im Haus ihres Vaters, Geschichten über Mosche ben Maimon zu erfahren. Sie verehrte ihn und war gewiss, dass ein Mann wie er, der bei Juden, Christen und Muslimen angesehen war, sich von den alten Schrecken, wie sie sich in Köln lange vor ihrer Geburt ereignet hatten, nicht würde zurückhalten lassen. Und was vergossenes Blut betraf, so behandelte Rabbi Mosche auch Saladin selbst und seine Generäle, die gewiss nicht weniger Tote zu verantworten hatten als der Herzog von Österreich.
»Es ist nicht gesagt, dass die Familie des Herzogs mich überhaupt empfangen wird«, murrte ihr Vater, und Judith wusste, dass sie gesiegt hatte.
Vetter Salomon kam mit ihnen, weil er nicht sicher war, ob ein Empfehlungsschreiben bei den derzeitigen Verhältnissen überhaupt gelesen werden würde; als Münzmeister hatte er zwar genügend Verbündete bei Hofe, die er als Freunde bezeichnete, aber die hatten jetzt alle andere Sorgen. »Nur nimm es mir nicht übel, Vetter, wenn ich dir einen Rat gebe. Dass du auf dem Weg nach Salerno bist und den Winter bei mir verbringst, bis die Pässe wieder frei sind, das ist eine Sache, aber dein Vorhaben, Judith dort ausbilden zu lassen, eine ganz andere. Sie werden dich nicht für einen guten Arzt halten, wenn du das erzählst, sondern für einen törichten Alten, bei dem der Greisenwahn schon eingesetzt hat. Sag einfach, dass du selbst dort lehren willst. Das macht Eindruck, und niemand braucht weitere Erklärungen.«
Judiths Sympathie für Vetter Salomon sank, doch überrascht war sie nicht. Es gab jüdische Ärztinnen, nur eben nicht sehr viele; man konnte diejenigen, die namentlich bekannt geworden waren, an einer Hand zusammenzählen. Und ob Jüdin oder Christin, nur in Salerno war es Frauen überhaupt möglich, die Heilkunst auf wissenschaftliche Weise zu erlernen, nicht wie die Stümperei der Ärzte an den drei christlichen Universitäten in Bologna, Paris und Oxford, deren Hauptfach die Astrologie war, oder gar der Bader, die sich ohnehin meist mehr auf Haare schneiden, rasieren, zur Ader lassen und das Badevergnügen konzentrierten. Ihr Vater hatte seine Jugend in Salerno verbracht und hatte dort Ärztinnen erlebt, sonst wäre er nie bereit gewesen, sie für seine Nachfolge in Betracht zu ziehen. Der Rest der Familie in Köln war alles andere als glücklich darüber und murmelte davon, wie der Tod seiner Söhne Rabbi Josef den Verstand getrübt haben musste; dass Vetter Salomon ähnlich dachte, war zu erwarten gewesen. Tatsächlich wusste Judith, dass sie immer noch in Köln säße und statt einer Ausbildung in Salerno eine Ehe für sie geplant würde, wenn ihre Brüder noch am Leben wären. Sie konnte nie die Gebete für die Toten sprechen, ohne deswegen Schuldgefühle zu empfinden, nicht zuletzt, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als Ärztin zu werden, seit sie als Kind ihrem Vater dabei zusehen durfte, wie er die Mutter von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte. Wenn Gott sie prüfen würde und fragte, ob sie ihre Brüder wiederhaben oder ihre eigenen Träume für immer aufgeben wollte, dann war Judith nicht sicher, ob sie diese Probe bestünde. Sie würde Menschen helfen, sagte sie sich, Menschen heilen, ihnen vielleicht sogar das Leben retten. Das Gefühl, selbstsüchtig zu sein, blieb dennoch.
All das hatte sie aber nicht davon abgehalten, ihren Vater
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