Das Spiel der Nachtigall
wieder und wieder zu bitten, von seiner glücklichen Jugend in Salerno zu erzählen, als er bei den besten Ärzten Europas studiert hatte, und so dessen Sehnsucht nach der Vergangenheit auszunutzen. Natürlich war es undenkbar, dass eine alleinstehende junge Frau ihr Heim verließ und so Schande über ihr Elternhaus brachte, aber wenn er mit ihr kam, wenn er nach Salerno ging und anbot, dort zu lehren, als Entgelt dafür, dass man sie unterrichtete, dann gab es nichts, dessen sie sich schämen mussten, im Gegenteil. Er würde an einen Ort zurückkehren, wo er nicht in jedem Schatten seine tote Familie fand, und sie würde beweisen, dass sie seiner Lehren wert war.
Salomon und ihr Vater trugen beide die Kittel aus blaugefärbter Wolle, die gut für eine Reise waren, weil man ihnen den Dreck und Schnee, den der Weg von Wien nach Klosterneuburg hinterließ, nicht sofort ansah, und sie hatte darauf geachtet, ihrem Vater die wärmsten Beinlinge zu geben, die sie aus Köln mitgebracht hatten. Sein Filzhut hatte sehr unter der langen Reise im Herbst gelitten, deswegen hatte sie Vetter Salomon gebeten, ihrem Vater einen der seinen zur Verfügung zu stellen, und auch einen seiner guten Wollmäntel; niemand sollte ihren Vater mit einem der Scharlatane verwechseln, die auf den Dörfern ihre Dienste anpriesen, nur, weil er zu vorsichtig war, um seinen schönen Mantel mit den Stickereien auszupacken, den ihm ein dankbarer Kaufmann geschenkt hatte. Judith selbst trug ihr schwarzes Reisekleid mit den enganliegenden Ärmeln, was im Winter wärmer und sinnvoller war als die weitärmligen Leinenkittel, die Salomons Gattin und Töchter in ihrem Haus zur Schau trugen, und sie hatte sich ihr Haar geflochten, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Um Salomon zu beschwichtigen, trug sie es außerdem vollständig umhüllt, obwohl das bei den Christen für Mädchen vor ihrer Ehe nicht Sitte war, doch da er ihrem Vater und ihr einen Gefallen tat, war das keinen Streit wert gewesen. Keine einzige rote Locke schaute unter dem Leinen hervor, das wie ein Verband um ihren Kopf und um den Hals geschlungen war. Unauffälliger und bescheidener konnte man sich nicht geben, davon war sie überzeugt – so lange, bis Vetter Salomon dem Haushofmeister von Klosterneuburg erklärte, wer sie waren und was sie wollten. Dieser kniff die Augen zusammen und erklärte, der Herzog habe schon seinen eigenen Medicus und zwei weitere um sich, die nach den Weihnachtstagen gekommen seien. Fast eine Woche ginge das nun so, ohne dass sich Besserung zeige. Warum ausgerechnet ein Jude daran etwas ändern solle, sei ihm schleierhaft.
»Noch dazu«, schloss er, »einer, der mit einem Weib reist. Wofür haltet Ihr unseren guten Herzog, für König David, der ein junges Mädchen braucht, um sich die Glieder zu wärmen?«
Im ersten Moment dachte Judith, sie hätte ihn nicht richtig verstanden. Sie hielt die Tasche mit ihres Vaters Instrumenten in den Händen, und ihre Finger, die sich in der Kälte gerötet hatten, wurden weiß an den Knöcheln, als sie ihre Hände zusammenkrampfte und auf den Boden starrte, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Das Schlimmste war, dass weder ihr Vater noch Salomon überrascht wirkten. Im Gegenteil, sie schienen beide diese Art von Anzüglichkeiten und Demütigungen erwartet zu haben.
»Ich bin alt«, entgegnete ihr Vater, »und meine Tochter Judith geht mir zur Hand.«
»Wenn deine Finger so zittrig sind, dass dir ein Weib helfen muss, dann solltest du niemanden mehr behandeln, Jude, und schon gar keinen Herrscher«, sagte der Haushofmeister überheblich. So ging es noch eine Weile hin und her, bis einer der hohen Herren, dem ihre Gruppe im Burghof aufgefallen sein musste, zu ihnen trat. Sein aufwendig bestickter Rock reichte nur bis zu den Knien, eine Mode, die Judith noch nicht gesehen hatte, bevor sie nach Wien gekommen war. Sie dachte zuerst, es handle sich um einen der Herzogssöhne, aber der Haushofmeister zeigte nur Höflichkeit, als er den Kopf neigte und sagte: »Euer Gnaden.« Auch Salomon machte eine Verbeugung; offenbar wusste er, um wen es sich handelte.
»Ich bin nur ein Gast hier, und leider kein freiwilliger«, sagte der Edelmann, den Judith auf achtzehn Jahre schätzte, spöttisch, »doch mir scheint, dass dem Herzog jeder Arzt willkommen ist. Ein weiterer Medicus kann nicht schaden, aber vielleicht nützen.« Er sprach mit einem deutlichen Akzent, den Judith nicht einordnen konnte. Die Mantelspangen, die seinen Umhang
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