Das Spiel der Nachtigall
»Dann sollten wir nach Würzburg gehen.«
Ein weiterer Beweis dafür, dass Paul die Tage seiner Kindheit hinter sich gelassen hatte, war, dass er sich nicht freute, Walther zu sehen. Stattdessen fragte er, ob sie mit einem Sänger, der ob seiner gegen den Papst gerichteten Lieder sogar in Köln bekannt sei, bei Bischof Konrad überhaupt vorgelassen werden würden.
»Ich bin nur dabei, um Euch und Eurer Base die Reise zu verkürzen«, sagte Walther, ohne zu lächeln.
»Wir werden aber doch die ganze Zeit reiten, und das so schnell wie möglich«, protestierte Paul. Dabei beließ er es jedoch.
Wie sich herausstellte, saß er zu Pferd, als sei er bestens mit langen Ritten vertraut; Judith fragte sich, ob er zwischenzeitlich viele Aufträge für seinen Vater so erledigte, und was sich Stefan dabei gedacht hatte, ihn ohne ein oder zwei erfahrene Söldner als Begleiter vom Rheinland hierherzuschicken. Als sie zum ersten Mal anhielten, um die Pferde zu tränken, wollte sie deshalb wissen, ob er denn wirklich ohne Begleitung den ganzen Weg nach Nürnberg alleine gemacht habe.
»Mit einem Tross kommt man nicht so schnell vorwärts.« Er schaute zu Walther. »Ihr reist doch auch meist alleine, Herr Walther?«
»Inzwischen bin ich um einen Knappen reicher geworden«, gab Walther höflich zurück, wiewohl ihm nicht entgangen war, dass Paul weder ja noch nein zu Juttas Frage gesagt hatte. »Aber Ihr habt recht, alleine kommt man schneller voran. Man riskiert allerdings auch viel mehr, und es gibt für Waffenunkundige wie mich die beunruhigende Aussicht, irgendwo auf jemanden zu stoßen, der sein Interesse an mir auf tödliche Weise ausdrücken will, nur um an meine Schuhe oder mein Pferd zu kommen.«
»Dann solltet Ihr lernen, mit dem Schwert zu kämpfen, Herr Walther. Ich habe es getan.« Paul klang bitter, als er, an Judith gewandt, hinzufügte: »Man kann in den letzten Jahren nicht in Köln leben, ohne kämpfen zu lernen. Zumindest nicht, wenn man jung und gesund ist, ganz gleich, ob Kaufmannssohn, Bäcker oder Edelmann. Weißt du, Jutta, in all den Geschichten, die ich früher von Erwachsenen hörte, war nie davon die Rede, wie man sich fühlt, wenn einem Kameraden gerade der Bauch aufgeschlitzt worden ist, weil er seine Stadt gegen einen verfluchten Schwaben verteidigt. Wenn du bei uns geblieben wärst, wären dir die Patienten wahrlich nicht ausgegangen.«
»Das sind sie auch bei den verfluchten Schwaben nicht«, entgegnete Judith und versuchte, ein Schuldgefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Es war nicht so, dass ihre Anwesenheit in Köln irgendeinen Unterschied für Paul gemacht hätte; der Krieg würde so oder so noch toben. Für Paul war es bestimmt sogar ein Vorteil, dass er nun mit Waffen umgehen konnte. Juden war das Tragen von Waffen verboten, sie waren quasi vogelfrei, konnten sich nicht wehren, obwohl Gewalt den Tagesablauf überall bestimmte. Das Schicksal war ihm durch Stefans Übertritt erspart geblieben. Ob er sich dessen bewusst war? Und trug sie irgendeine Verantwortung für das, was in Köln geschehen war? Nein!
Es sei denn, dass Otto die Mitgift von Marie von Brabant in die Lage versetzt hätte, sich genügend Fürsten zu kaufen, um Philipp zu besiegen … Es sei denn, dass sein Bruder, der Pfalzgraf, nie die Seiten gewechselt hätte … Es sei denn …
Diese Gedanken führten nicht weiter.
»Gut«, sagte Paul heftig. »Ich hoffe, jeder Einzelne von ihnen starb so schmerzhaft wie möglich.«
»Da kennt Ihr Eure Base schlecht.« Walther legte Judith eine Hand auf den Arm. Sie wusste nicht, ob er es als Trost oder als Mahnung zur Zurückhaltung meinte, doch sie war dankbar. Was auch immer in Würzburg geschehen würde, sie war nicht alleine, und das bedeutete ihr viel. Es kam ihr in den Sinn, dass so mancher der Männer, die sie geheilt hatte, diejenigen gewesen sein konnten, die Pauls Freunde getötet hatten. Genau, wie es Paul gewesen sein konnte, der für einige der Krüppel und Toten unter ihren Händen verantwortlich war. Der gleiche Paul, der früher nur nach Drachen und Einhörnern gefragt hatte.
Sie schaute ihn an und hatte keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er gerade gesagt hatte, dass er wusste, was ein langer, qualvoller Tod bedeutete, und ihn trotzdem den Anhängern Philipps wünschte. Also auch ihr? Hatte Paul daran gedacht, als er das sagte? Nein, sie gehörte zu seiner Familie. Zusammenhalt in der Familie ging über alles.
Unerwartet stieg in ihr Hass gegen
Weitere Kostenlose Bücher