Das Spiel der Nachtigall
würde es zwar nie zugeben, mein Sohn, aber sie handeln nicht anders als wir Kaufleute. Sie trachten nur nach dem eigenen Gewinn. Wenn entweder Otto oder Philipp sich durchsetzt, ist es vorbei mit dem Geschacher. Bei nur einem einzigen mächtigen König werden sie diejenigen sein, die Gelder und Gebiete abzugeben haben, und keiner will das!«
Bei sich dachte Paul, dass es vielleicht auch damit zu tun hatte, dass Heinz von Kalden zwar ein niedrig geborener Ministerialer war, aber mindestens ein so guter Heerführer wie Otto, vielleicht sogar ein etwas besserer, aber so etwas würde er nie laut aussprechen. Seit der Angelegenheit mit den englischen Geldern hatte sich Ottos Groll gegen Pauls Vater gelegt, was bedeutete, dass auch Paul den König gelegentlich aus der Nähe erleben durfte. Ein-, zweimal hatte er sogar an seiner Seite kämpfen dürfen, und das hatte Pauls Bewunderung für Ottos persönliche Tapferkeit und in dessen Waffenkunst bestärkt. Er musste zugeben, dass es auch Seiten an Otto gab, die ihm nicht gefielen. Ein Knappe, der ihm aus Versehen die falsche Scheide für sein Schwert gereicht hatte, war von ihm mehrfach ins Gesicht geschlagen worden, nicht mit der Faust, sondern mit der offenen Hand, so wie man Dienstboten oder Ehefrauen schlug. Und bei dem Fest, das Otto zu Ehren Brunos gegeben hatte, ehe dieser gefangen genommen worden war, da hatte er sich nicht nur von Gauklern unterhalten lassen, sondern sich auch an den Missgeburten ergötzt, die ihm vorgeführt wurden, und ihnen befohlen, Wein vom Boden aufzulecken, den er eigens dafür ausgoss. Paul hatte wegschauen müssen. Es waren nicht nur verwachsene Menschen, sondern auch ein paar unglückliche Krüppel, die Arme oder Beine verloren hatten; Paul war dabei gewesen, als Kameraden so etwas im Kampf für die gute Sache geschah. Es erschien ihm seltsam und falsch, dass sein König in der Lage war, über die Krüppel der Gauklertruppe zu lachen, als habe er selbst nie erlebt, wie ein gesunder Mann in der Schlacht zu einem solchen Unglückswesen wurde.
Die Gedanken hatten Paul gezwungen, erneut zu dem Gaukler mit seinen Missgeburten und Krüppeln zu blicken. Einer von ihnen, ein bärtiger Mann ohne Beine, der von einem Zwerg in einem Karren gezogen wurde, hatte etwas Vertrautes, aber erst, als Paul sich wieder in seinen eigenen vier Wänden befand, war ihm eingefallen, an wen ihn das Gesicht erinnert hatte; an Gilles, den fröhlichen, gutmütigen Gilles, der als Gatte seiner Base bei ihnen gelebt hatte. Jutta hatte in Nürnberg behauptet, nicht zu wissen, was aus Gilles geworden war, und am Ende hatte die Unsicherheit Paul keine Ruhe gelassen, bis er die Gaukler aufspürte. Ihr Anführer, so stellte sich heraus, hatte den beinlosen Mann in Franken von einem anderen Gauklertrupp gekauft. Er sei geschickt mit seinen Händen und gehorsam; die Menschen lachten, wenn sie ihn mit dem Zwerg zusammen erlebten, aber er spräche nie, deswegen könne er ihm auch nicht sagen, ob es sich um einen Deutschen oder um einen Aquitanier handele. Paul hatte sich zu dem Mann führen lassen, voll Zweifel in dessen Gesicht gestarrt, und gerade, als er sich sicher war, dass ihn sein Gedächtnis täuschen müsse, hatte sich der Mund des Krüppels geöffnet. »Hörst du noch immer gerne Geschichten über Drachen?«
Auf Deck des Schiffes, das vom Rhein nach Speyer getragen wurde, klammerte sich Paul an die Reling und schaute zu der Kiste hinüber, in der die beinlose Gestalt saß und ihren Kopf der Sonne entgegenhielt.
»Du wirst ihn doch nicht Philipp zur Unterhaltung schenken«, flüsterte er seinem Vater ins Ohr, denn sosehr er sich sagte, dass der Gedanke unwürdig war, dass dies nicht der Grund sein konnte, warum sein Vater Gilles freigekauft hatte, so sehr nagte der Verdacht an ihm, dass sein Vater nichts, aber auch gar nichts ohne Hintergedanken tat. Wenn der edle Otto Krüppel und Missgeburten unterhaltend fand, warum dann nicht auch der Hund Philipp?
Pauls Vater schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht jünger, Paul«, sagte er. »Eines Tages werde ich endgültig zu alt für das sein, was ich tue. Aber wenn du tatsächlich glaubst, dass ich Gilles wegen Philipp mitgenommen habe, dann bist du noch lange nicht so weit, an meine Stelle zu treten.«
* * *
Irene wusste, dass sie dem Schicksal dankbar sein sollte. Sechs Kinder hatte sie zur Welt gebracht, und nur zwei davon waren gestorben; vier gesunde Töchter waren mehr, als
Weitere Kostenlose Bücher