Das Spiel der Nachtigall
das, ich habe schon wieder an der Armenspeisung teilzunehmen und vor Häusern bestimmter Kaufleute auf Euch zu warten?«
Auf diese Weise erfuhr sie von dem Aufenthalt Walthers und Markwarts in Köln vor ein paar Jahren. Walther hatte es in Braunschweig erwähnt oder auf dem Weg nach Würzburg, genau wusste sie es nicht mehr; sie hatte es vergessen, bis Markwart sie wieder daran erinnerte. Judith zwang sich, nicht an eine Zeit zu denken, in der sie froh und glücklich gewesen war, in Walthers Gegenwart zu sein, und setzte stattdessen bei dem an, was sie für sich nutzen konnte. Ihr Onkel besaß ein sehr gutes Gedächtnis, was Menschen betraf, selbst welche, die er nur flüchtig gesehen hatte oder keine hohe Stellung hatten. Sie bat Markwart also, bei dem Haus des Kaufmanns Stefan eine Bestellung für roten und weißen Wein abzugeben, keine Fässer, sondern gerade so viel, dass es für vier Becher genügen würde.
»Kein Weinhändler wird sich auf eine derartig dumme Bestellung einlassen!«, protestierte Markwart.
»Mein Onkel wird es tun, und er wird dir folgen. Er selbst, keiner seiner Leute. Also kehre auf dem direkten Weg zu dem Badehaus zurück, wo ich mich aufhalten werde.«
»Ihr wollt in ein Badehaus? «
»Ich bin Ärztin«, sagte Judith mit undurchdringlicher Miene. »In einem Badehaus können sie Ärzte immer gut gebrauchen.« Dort konnte man außerdem keine Waffen tragen – selbst damals in Chinon hatten Ottos Wachen draußen warten müssen –, denn man lief nackt oder so gut wie nackt herum. Sie wollte ihren Onkel so verwundbar wie möglich haben; Stefan war inzwischen ein alter Mann, und die wenigsten von denen brachten es fertig, in Gesellschaft anderer unbefangen zu ihren Körpern zu stehen. Der allgegenwärtige warme Dampf mochte helfen, um ihn weniger überlegen als sonst zu machen, aber bei Stefan, so wie sie ihn kannte, hielt sie es auch durchaus für möglich, dass er in Hitze und Schneesturm gleichermaßen selbstbeherrscht blieb.
Als sie Stefan wiedersah, ohne Paul, ganz wie sie vermutet hatte, krampfte sich etwas in ihr zusammen, denn sein Haar war kaum noch vorhanden, der Rest schlohweiß. Sie musste an ihren Vater denken, obwohl er ihm nicht im Geringsten ähnelte. Durch die faltige Haut hatte sich auch die leichte Ähnlichkeit zu ihrer Mutter verloren. Judith fragte sich, ob er wohl immer noch seine Schwester in ihr sah. Doch ob er es nun tat oder nicht, er würde es behaupten, früher oder später, um sie verwundbar zu machen. Das durfte sie nicht einen Herzschlag lang vergessen.
»Es ist ein christliches Badehaus, in dem du mich erwartest«, sagte er; seine Stimme war unverändert. »Und doch hast du die Weinmischung für eine Seder bestellt. Dabei ist das Pessach-Fest schon vorbei.«
Sie hatte sich nicht getäuscht; er hatte sofort gewusst, wer diese Bestellung abgegeben hatte. Onkel, dachte sie, ist dir klar, dass du jetzt derjenige bist, der berechenbar geworden ist?
»Paul sagte mir, dass du Kaddisch für uns gesprochen hast«, fuhr Stefan fort. »Willst du von mir hören, dass ich dir den Gefallen erwidert habe? Du hast mir Leid zugefügt, Nichte. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist.«
Er begegnete ihren Vorwürfen, ehe sie diese machen konnte, indem er seine eigenen aussprach, um Schuldgefühle in ihr zu wecken. Warum nur konnte sie erst jetzt seine Schachzüge so schnell als solche erkennen?
»Du hast meinen Gemahl gerettet, ihn beherbergt und ihn mir zurückgegeben«, entgegnete sie. »Du hast mir Gutes getan, Onkel. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist. Schließlich war das nicht der Grund, warum du es getan hast.«
In seinen Augen tanzte etwas, das Entzücken sein könnte, aber das mochte an den Öllampen liegen, die hier von der Decke hingen. »Jutta, Jutta, Juditlen«, murmelte er. »Du hättest ein Junge sein sollen und mein Sohn.«
»Dann hättest du mich Mordaufträge übernehmen lassen, statt mir die Geschichte von Esther zu erzählen«, antwortete sie. »Ich habe nie gewünscht, ein Mann zu sein, Onkel, noch eine andere als die Tochter meiner Eltern. Aber …« Sie zögerte. Jetzt kam es darauf an, darauf, dass er ihr glaubte. »Ich habe festgestellt, dass ich mehr deine Nichte bin, als ich es wahrhaben wollte.«
»Nun, die Art, wie man eine Bitte vorbringt, hast du nicht von mir gelernt«, stellte er trocken fest. »Um wessen Leben geht es? Denn nichts Geringeres könnte dich wohl dazu bringen, hier bei mir aufzutauchen.«
Sie spürte, wie in der feuchten
Weitere Kostenlose Bücher