Das Spiel der Nachtigall
Onkel. Wenn er mich vergessen hat, dann wäre eine Empfehlung von dir eine Möglichkeit, ihn zumindest dazu zu bewegen, mich zu empfangen, damit ich um eine Stelle bei Hofe für mich und Gilles bitten kann. Wenn er mich nicht vergessen hat und mir grollt, dann wäre es ein Grund, mich nur fortzuschicken, statt sich zu rächen, wenn er auf dich Rücksicht nehmen muss.«
»Wer sagt, dass er noch auf mich Rücksicht nehmen muss? Immerhin ist ihm Köln inzwischen verlorengegangen. Da mag es ihm gleich sein, was Kölner Kaufleute denken.«
»Er war im letzten Jahr in England, Onkel, und kam mit englischen Geldern zurück, wie man hört. Auch von deinem Haus gehen ständig Handelszüge nach England und in den Teil der Normandie, der noch nicht wieder französisch ist. Das alles scheint mir ein roter Faden in einem immer noch sehr fest gewebten Teppich zu sein. Ganz gleich, was für die Stadt Köln insgesamt gilt, Herr Otto und du gehen noch lange nicht getrennte Wege.«
»Du hättest mein Sohn sein sollen«, sagte ihr Onkel wieder und seufzte. Mit einem Mal hatte sie Mitleid mit Paul. »Und was, meine Teure, bekomme ich für dieses Empfehlungsschreiben?«
»Kein Schreiben, Onkel, sondern eine mündliche Empfehlung, überbracht von deinem Sohn, damit Herr Otto sieht, wie ernst sie dir ist. Du bekommst das, wonach wir uns alle sehnen: einen neuen Anfang. Ich werde dir dankbar sein, und was wir uns auch angetan haben, wird ungeschehen sein.«
»Das hältst du für möglich?«, fragte er sehr, sehr ernst.
Sie dachte an Chinon, Würzburg, aber auch an Gilles und seine verlorenen Beine, seine Jahre als zur Schau gestelltes Tier. Sie dachte daran, wie Walther gefragt hatte: »Was kümmert dich das? Du warst doch nie mit ihm verheiratet.«
»Manchmal«, entgegnete Judith. »Manchmal.«
* * *
Der direkte Weg von Eisenach nach Brüssel mochte zwar nicht über Bamberg führen, doch die Stadt lag zumindest nahe genug, dass der Umweg zu verantworten war. Walther war nicht so gutgläubig, versiegelte Empfehlungsschreiben zu überbringen, die eine geheime Botschaft enthalten mussten, ohne zu wissen, was darin stand, und er hielt es obendrein für einen guten Gedanken, sich in Bamberg umzuschauen, bevor es im Sommer nur so vor Fürsten und ihrem Gefolge wimmeln würde. Falls er mit seiner Vermutung hinsichtlich Hermanns Absichten recht hatte, konnte es nicht schaden, über bessere Ortskenntnis zu verfügen und ein paar Verbindungen. Nicht, dass er die Absicht hatte, irgendjemand anderem zu helfen als den kleinen Königstöchtern, die nicht verdient hatten, entführt zu werden, nur weil der Landgraf von Thüringen seinen Rachen nicht vollbekam. Es waren alles aufgeweckte Mädchen, nicht zu hochmütig für Fürstentöchter und auf quirlige Weise lebensfroh. Er stellte sie sich in einer ungewollten Ehe wie der Jutta von Meißens vor; obwohl sie früher oder später wohl nichts anderes erwartete, war ihm der Gedanke zuwider, dass es jetzt schon so weit sein könnte.
Falls Judith bei ihnen sein sollte, nun, das ließ sich nicht ändern. Er würde kein Wort mit ihr wechseln. Nie mehr.
Der Erzbischof von Bamberg war bereit, Herrn Walther von der Vogelweide zu empfangen, obwohl sein Haushofmeister warnend mahnte, von Liedern über den Papst abzusehen. Schließlich sei sein Herr Eckbert von Andechs erst nach langem Hin und Her und nach Erreichen des dreißigsten Lebensjahrs vom Heiligen Vater bestätigt worden. Auch der Dompropst – Eckberts Bruder Berthold – sei ein frommer Herr und nicht gewillt, Böses über den Stellvertreter Gottes auf Erden zu hören. Andererseits seien die beiden keine freudlosen Herren, und Lieder, welche die angenehmen Dinge des Lebens feierten, selbst solche, die dem geistlichen Stand gewöhnlich fremd waren, seien durchaus willkommen.
Walther erkannte Berthold von der kurzen Begegnung auf der Wartburg. Sein Bruder Eckbert glich ihm bis zu dem kleinen Ränzlein, das beide trotz ihrer Jugend schon trugen, hatte jedoch ein kantigeres Kinn und erweckte nicht den Eindruck, wegen irgendetwas unsicher zu sein. Walther trug ein paar Frühlingslieder und seine Beschwerden über die lauten Ritter auf der Wartburg vor; die Andechs-Meranier und der Rest der Bamberger Domherren lachten an den richtigen Stellen. Um eine Vermutung zu überprüfen, ließ Walther etwas Ernsteres folgen und stimmte sein Klagelied von den drei Dingen an. Es wurde ruhig im Saal; anschließend winkte der Bischof Walther zu sich und sagte
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