Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Geschichte von den weisen Frauen von Salerno geglaubt«, gab er zurück. »Ich hielt es immer für ein Gerücht, das Ärzte in die Welt gesetzt hatten, um offen mit ihren Konkubinen leben zu können.« Als sich ihr Gesicht weiter verdunkelte, dachte er an das englische Silber und fügte schnell hinzu: »Das war ein Scherz, um Gottes willen. Aber mir ist in meinem Leben noch keine Magistra begegnet, und ich bin nun einmal ein Mensch, der nicht alles glaubt, was man ihm erzählt, auch wenn es schöne Geschichten sind, wie die von Einhörnern. Denen bin ich auch noch nicht begegnet.«
    »Die Schule von Salerno ist kein Einhorn«, sagte sie mit einer Miene, die hätte töten können. »Sie besteht seit über zweihundert Jahren.«
    Diesem herablassenden Tonfall konnte er nicht widerstehen. »Ja, und sie wurde angeblich von zwei Christen, einem Juden und einem Araber gegründet. Das hört sich so unendlich wahrscheinlicher als die Geschichte von dem Einhorn an …«
    »Was soll bitte daran unwahrscheinlich sein?«, fragte sie erbost.
    »Geht ins Heilige Land und fragt. Warum um alles in der Welt sollten Christen von Juden und Moslems lernen wollen?«
    »Weil Euer eigenes medizinisches Wissen so unendlich beschränkt ist!« Sie funkelte ihn verächtlich an. »Warum sollte sich also eine Jüdin die Mühe machen, mit Euch zu reden? Gehabt Euch wohl, Herr Walther von der Vogelwiese.«
    Er sah ihr erstaunt hinterher. Walther war noch nie einer Jüdin begegnet, jedenfalls nicht wissentlich. Müsste sie nicht anders aussehen? Ihre Haut war nicht dunkler als die seine. Den Augenbrauen nach zu schließen, war ihr Haar dunkelrot; nun, das war das von Judas bei den Passionsspielen auch, aber trotzdem hatte er sich Juden immer dunkelhaarig vorgestellt. Das Kind in ihm, das Predigten über die Gottesmörder gehört hatte, schauderte unwillkürlich. Aber er war kein Kind mehr, und was sie auch sonst sein mochte, sie war eine Frau, die um ihren Vater fürchtete und die man nicht alleine lassen konnte.
    Außerdem musste sie irgendetwas von dem englischen Silber wissen, nach ihrer Bemerkung vorhin …
    Er lief ihr nach, stellte sich ihr in den Weg und schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln. »Wenn Ihr mich beschimpft, dann tut es wenigstens mit meinem richtigen Namen: Meine Vögel nisten auf einer Weide, nicht in einer Wiese. Und wenn Ihr Euren Vater sucht, dann seid Ihr in die falsche Richtung unterwegs.«
    * * *
    Das einzig Vernünftige wäre, ihn zum Teufel zu schicken, dachte Judith. Doch sie wusste wirklich nicht, wo sich die Räume des Herzogs befanden, und sie bezweifelte, diese im Wirrwarr der Gänge zu finden. Bei dem Pech, das sie heute verfolgte, würde sie am Ende erneut diesem Otto in die Hände laufen, was sie unter allen Umständen vermeiden wollte. So war ein christlicher Dichter – selbst einer mit dem Talent, in jeden zweiten Satz erzürnende Dinge zu packen – die bessere Wahl; zumindest konnte er ihr den Weg zeigen. Sie wusste auch noch nicht, was sie tun sollte, wenn sie ihren Vater erst gefunden hatte. So schnell wie möglich zu verschwinden, würde ihren Vater erst recht verdächtig machen, und es wäre für die Leute des Herzogs ein Leichtes, sie zu finden. Immerhin hatte Salomon sie laut und deutlich als seine Verwandten vorgestellt. Und selbst wenn sie sofort Packesel auftrieben und aufbrachen, würden sie bei all den verschneiten Wegen und Pässen kaum weit kommen, ehe man sie einholte.
    »Ich dachte, wir sind uns einig, dass Ihr ein blindes Huhn seid«, sagte sie, weil er sich nicht einbilden sollte, dass sie nach all den Beleidigungen erfreut über seine Begleitung war. Er grinste. Sie musste zugeben, dass sein Lächeln die höchst unangebrachte Wirkung hatte, ihn weniger als einen ohrfeigenwürdigen Laffen und mehr wie einen unreifen Jungen aussehen zu lassen. Nein, eher wie jemanden, dessen Lächeln man erwidern musste, was vielleicht auch daran lag, dass er über sich selbst lachen konnte, und das hatte sie nur sehr selten erlebt.
    »Nicht doch«, gab er zurück. »Ich bin ein Wanderfalke. Auf meine Augen und meinen Richtungssinn ist immer Verlass.«
    »Und ich dachte, Falken näht man die Augen zu, damit sie nicht fortfliegen«, murmelte sie, doch sie nahm seinen Arm, als er ihn ihr bot.
    Man merkte, dass der Hofstaat des Herzogs schon länger in diesem Gebäude lebte; sie konnte den Urin in vielen Ecken riechen, wo sich Menschen erleichtert hatten, statt es draußen im Schnee zu tun. Aber die Mauern waren

Weitere Kostenlose Bücher