Das Spiel der Nachtigall
Otto die große Ausnahme unter den Männern, jemand, dessen Charakter von mehr Macht verbessert wurde? Der an der neuen Machtfülle reifte, statt sie sich zu Kopf steigen zu lassen? Schließlich hatte er lange genug darauf gewartet, und er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, nicht eine Statue aus Stein, die unveränderlich war und ständig in die gleiche Richtung blickte.
Dann erinnerte Judith sich wieder an Ottos kurze Bemerkung über seine Freude an Hochzeitsfeiern, und ihr Versuch, in ihm das Gute zu sehen, erschien ihr lächerlich.
Um sich abzulenken, schaute Judith auf die Gäste hinter Otto. Der Pfalzgraf aus Braunschweig und seine Gemahlin waren nicht die einzigen Gesichter, die sie erkannte. Den Bischof von Speyer hatte sie erwartet; er war übergangslos von Philipps Kanzler zu Ottos Kanzler geworden, was wohl ebenfalls eine richtige Entscheidung war, die sie Otto anrechnen musste. Wolfger von Passau war eine Überraschung, denn sie hatte ihn in Italien gewähnt. Und zur Linken, bester Stimmung, umrahmt von zwei jüngeren Frauen, von denen eine wohl seine Gemahlin sein musste, stand Hermann, Landgraf von Thüringen. Bei der anderen Frau handelte es sich um die Markgräfin von Meißen. Judith zuckte zusammen, als ihr einfiel, wann ihr diese Dame zum letzten Mal begegnet war. Als sie den Mann sah, der schräg hinter der Markgräfin stand, glaubte sie im ersten Moment, die Erinnerung spiele ihr einen Streich und habe ihn deswegen hierher in den Hof der Feste zu Würzburg gezaubert, doch nein. Hinter Jutta stand Walther.
* * *
Walther sagte sich, dass er nach Würzburg gekommen war, weil er Otto als Gönner brauchte und weil der Herzog von Österreich dort sein würde. Es konnte nicht schaden, noch einmal zu versuchen, sich gut mit ihm zu stellen. Es würde Leopold beweisen, was für einen Schatz er an Walther in Wien haben könnte, wenn König Otto sich ihm wohlgeneigt zeigte. Außerdem machte er sich Sorgen um die kleine Königstochter, die nun Königin sein würde, obwohl sich Zuneigung für ein gekröntes Haupt nie empfahl. Doch er wusste, dass sie seine Lieder schätzte; es würde ihr bestimmt Freude bereiten, wenn er bei dieser Feier für sie spielte.
Dass Judith bei ihr sein würde, war Nebensache. Gewiss, nach all dem, was sie in der Vergangenheit miteinander verbunden hatte, würde sie ihn wohl nie gleichgültig lassen, doch sie hatte klargemacht, dass es keine Zukunft für sie beide gab; sie konnte ihm wohl nie verzeihen, und er war sich auch nicht sicher, ob er ihr verzeihen würde. Also war es das Beste, nur noch vorwärtszuschauen und bei gelegentlichen unvermeidlichen Begegnungen höflich zueinander zu sein, wozu er als reifer Mann schließlich imstande sein musste. Es gibt keinen Grund, in rührseligen Erinnerungen zu schwelgen, nur, weil wir hier in Würzburg sind, dachte Walther, bis er daran erinnert wurde, dass Judith nicht die einzige Frau war, in der diese Stadt Erinnerungen wachrufen konnte: Jutta von Meißen trat ein paar Schritte zurück, so dass sie neben ihm stand, als Otto Beatrix’ Hand nahm und sie zu Wolfger geleitete, vor dem sie ihre Versprechen leisten würden.
»Ich weiß bei Hochzeiten nie, wen ich mehr bemitleiden soll, den Bräutigam oder die Braut«, bemerkte sie beiläufig.
»Sie ist ein reizendes Mädchen mit einer Krone im Gepäck, und die reichste Erbin im Land«, gab Walther mit gesenkter Stimme zurück. »Da gibt es keinen Grund, Herrn Otto zu bemitleiden.«
»Nun, zumindest in einer Beziehung gibt es den. So, wie sie aussieht, blutet sie noch nicht, also kann es keine Hochzeitsnacht für ihn geben. Das heißt natürlich nicht«, fügte sie vielsagend hinzu, »dass wir anderen enthaltsam leben müssen, um das Brautpaar zu ehren.«
Erst da fiel Walther wieder ein, wie er Jutta unabsichtlich gedemütigt hatte. Seit seinem Besuch in Thüringen wusste er, wie tief sie das getroffen hatte. Nun aber strich ihr kleiner Finger sacht über seine Hand, ehe sie wieder neben ihren Vater trat. Ihr Gemahl war nicht hier, wie ein Gerücht wissen wollte, weil Dietrich von Meißen und Otto einander nicht ausstehen konnten, woran man den König lieber nicht erinnern wollte.
An jedem anderen Ort hätte Walther Juttas Angebot, ohne zu zögern, beim Schopf ergriffen. Aber die Vorstellung, ausgerechnet in Würzburg mit ihr ein Bett zu teilen, während Judith sich in der gleichen Burg befand, machte ihm unerwartet zu schaffen. Vor allem, weil er sicher war, dass Judith es als
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