Das Spiel der Nachtigall
Erkundigungen im Sinn hatte, fand er sich nach seiner Nacht mit der Markgräfin Jutta gleich bei Sonnenaufgang vor den Räumen der Königin ein. Zwei Wachposten standen davor, aber bei Beatrix’ altem und neuem Rang verwunderte ihn das nicht. Was ihn hingegen mehr als überraschte, war, Otto mit dem Gesicht eines befriedigten Mannes in seinem Hochzeitsgewand vom vergangenen Tag die Räume verlassen zu sehen. Die Möglichkeit, die Walther sofort in den Sinn kam, löste Übelkeit und Empörung in ihm aus. Da die Wachposten Otto folgten, gab es niemanden, der Walther daran hinderte, das Vorzimmer sofort zu betreten, obwohl er nicht wusste, was um alles in der Welt er tun konnte, um einem geschändeten kleinen Mädchen zu helfen.
Das Erste, was ihm ins Auge stach, war das lange Unterkleid aus Seide, das Judith nur unter Feiertagsroben trug, weil es leicht knitterte, und das am Ausschnitt zerrissen war; an ihrem Brustansatz erkannte er blaue und braune Druckstellen. Das Zweite war, dass ihre Lippen wund gebissen schienen, und ihre Augen wie aus Stein. Als sie ihn erkannte, flackerte etwas in ihnen, während er begriff.
»Ich dachte«, begann er tonlos, weil die Stille zwischen ihnen schrecklich war, weil er sie umarmen wollte und doch keine Hand rühren konnte. Wenn er in diesem Moment die Wahl gehabt hätte, ins Spinnhaus zurückzugehen und dafür die vergangene Nacht ungeschehen zu machen, er hätte es getan.
In Judith kam Bewegung. Sie deutete mit dem Kinn zur Kemenate der Königin. »Sie darf nichts merken«, flüsterte sie. Dann raffte sie aus einem Reisekorb ihren Mantel und den Kittel aus Leinen, den sie für gewöhnlich als Oberkleid trug, wenn sie mit irgendwelchen Tinkturen hantierte, und fragte bittend: »Bringst du mich zum Burgbrunnen? Ich … ich muss mich waschen.« Die eiserne Selbstbeherrschung, die sie umhüllte, begann zu schmelzen, und er sah, wie ihr Mund zu zittern anfing. »Ich muss mich wirklich waschen.«
Als er Jutta von Meißen verlassen hatte, war ihr in einem Bottich warmes Wasser für ein morgendliches Bad gebracht worden. Wenn er länger darüber nachdenken würde, dann müsste er den Einfall als wahnsinnig verwerfen, aber gerade jetzt dachte er nicht; er fühlte nur, und was er fühlte, war zum größeren Teil nichts als der Wunsch, Judith eine neuere, bessere Welt zu Füßen zu legen, in der ihr nie mehr dergleichen geschehen konnte.
»Es gibt Besseres für dich«, gab er zurück, nahm sie bei der Hand und führte sie in das Gemach der Markgräfin. Dass Judith ihn nichts weiter fragte, sondern ihm widerspruchslos folgte, war ein weiteres Zeichen dessen, was ihr geschehen war, und er fragte sich, warum um alles in der Welt er sie nicht in Bamberg, als sie ihm auf dem Altenburgberg vor die Füße gefallen war, genommen und weit fortgebracht hatte, nicht in den Dom, sondern irgendwohin, wo es keine Fürsten gab.
Jutta war bereits dabei, von ihren Mägden angekleidet zu werden. Sie starrte Walther erst überrascht an, dann, als ihr Blick zu Judith glitt und sie erkannte, stirnrunzelnd.
Es geschah nicht häufig, dass ihm die Worte fehlten, doch dies war so ein Zeitpunkt. Statt einer leichtfüßigen Erklärung bat er hilflos: »Freunde helfen einander.«
Juttas Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie trat näher; ein Hauch des Erkennens glitt über ihre Züge, während sie ihr Gegenüber musterte. Sie streckte eine Hand aus und legte sie unter Judiths Kinn, ihren Kopf vorsichtig zur Seite drehend, die Augen auf ihren blutverkrusteten Mund gerichtet.
»Der König«, sagte Walther bitter.
Jutta presste die Lippen zusammen. Dann befahl sie ihren Mägden zu gehen und sagte: »Das Wasser wird bald kalt, wenn es nicht genutzt wird, Magistra.«
Judith schluckte, einmal, zweimal, dann ließ sie ihren Umhang und den mitgebrachten Leinenkittel zu Boden fallen. Als sie versuchte, aus dem Unterkleid zu schlüpfen, versagten ihre Arme. Walther wollte ihr helfen, doch Jutta war schneller und zog ihr vorsichtig das Gewand über den Kopf. Er dachte daran, wie er Judith das seidene Unterkleid mitgebracht hatte, das kostbarste Geschenk, das er sich leisten konnte, gewebt in Apulien, wohin ihn während ihrer Zeit in Salerno seine Fahrten zu den wenigen noch verbliebenen deutschen Fürsten in Italien geführt hatte. Sie hatte davon geschwärmt, wie es sich auf ihrer Haut anfühlte: zärtlich wie ein Kuss. Nun erkannte er Samenspuren darauf, und er wusste, dass sie es nie mehr tragen würde, weil es sie an die
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