Das Spiel der Nachtigall
jetzt, wo es so aussah, als habe sich dieser Tag doch noch zum Guten gewendet, schien sich all die Angst, die sie vorher unterdrückt hatte, um ihren Hals zu winden, um sie zu ersticken.
Abrupt wandte sie sich ab und lief zu dem in Augenhöhe liegenden Fenster, dessen Holzflügel wegen der Winterkälte natürlich geschlossen waren, und stieß sie auf. Erst, als sie in tiefen, keuchenden Atemzügen Luft in sich sog, merkte sie, dass Tränen über ihr Gesicht rannen und auf ihren Wangen gefroren. Hastig schloss sie die Holzläden wieder.
»Judith, geht es dir gut?«, fragte die Stimme ihres Vaters besorgt, und sie fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Wenn jemand das Recht hatte, aufgeregt zu sein, dann er, nicht sie.
Judith zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, drehte sich um und fiel ihm um den Hals. »Es tut mir leid«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Hat Euch die Herzogin keine Magd mitgegeben?«, hörte sie Vetter Salomon missbilligend fragen. »Ich will nicht hoffen, dass Ihr alleine durch die Hofhaltung gewandert seid!«
Erst jetzt bemerkte sie, dass er sich auch im Raum befand. Er musste schon die ganze Zeit hier gewesen sein, doch darauf geachtet haben, nicht aufzufallen, als die Stimmung im Raum gegen ihren Vater umschlug. Wahrscheinlich hatte er sich hinter dem breitesten Höfling versteckt! Nein, das war ungerecht. Er hatte hier nicht nur eine Stellung zu verlieren; es hätte ihrem Vater auch nichts genutzt, wenn Salomon gerade dann für ihn gesprochen hätte, als Leopold alle Juden verdächtigte.
»Das ist sie nicht«, sagte Walther. »Ich hatte die Ehre, Eure Verwandte zu begleiten.«
Salomon warf einen Blick auf die Laute, dann auf Walther; es war deutlich, dass er keine hohe Meinung von musizierenden Höflingen hatte.
»Ich danke Euch«, erklärte ihr Vater höflich. »Ich bin Josef von Köln.«
»Vater, Vetter Salomon, dies ist Herr Walther von der Vogelweide«, stellte Judith ihn hastig vor, und ihr war wieder sehr bewusst, dass sie ihm noch etwas schuldete. »Ich glaube, seine Kunst war es, die das Herz des neuen Herzogs besänftigte.«
»Dann stehen meine Tochter und ich tief in Eurer Schuld«, fügte Josef hinzu, während sein Vetter die Augen rollte und sicher lieber etwas anderes gehört hätte.
»Das Herz des neuen Herzogs wird noch viel sanfter werden, wenn er Gewissheit über das Schicksal des englischen Silbers hat«, sagte Walther bedeutungsvoll.
Judith wusste nicht, ob es das missbilligende Schnalzen von Vetter Salomon war oder das rührend ahnungslose Gesicht ihres Vaters, aber sie musste lachen. Es war genauso unerwartet und unpassend wie ihr Tränenausbruch, aber es löste den letzten Rest der Schlinge um ihre Kehle.
Walther stellte seine Laute ab und verschränkte die Arme ineinander. »Ich lache gerne mit.«
»Nicht im Zimmer eines Toten«, entgegnete Judith. »Es tut mir leid. Es ist nur … Vetter Salomon ist sehr stolz auf sein Amt, und er hat uns lang und breit über das Silber erzählt, aber hier scheint jeder zu glauben, es sei ein großes Geheimnis.«
»Weil die meisten hohen Herren die falschen Vorstellungen von Silber haben«, sagte Salomon gallig. »Sie meinen, es ruhe noch in den Truhen, in denen es aus England eintraf, bis auf das, was für die neuen Bauten ausgegeben wurde, versteht sich. Nur der Herzog, Gott habe ihn selig, hat verstanden, was ich ihm vorgeschlagen habe. Dass man endlich neue, gute Münzen braucht, die das wert sind, was darauf steht. Versteht Ihr? Münzen und Barren mit einem Silbergehalt, der mit den Münzen anderer Fürstentümer vergleichbar ist. 234 Gramm Silber für eine Silbermark und etwas weniger als ein Gramm für einen Silberpfennig!«
»Ihr meint …«, begann Walther mit gerunzelter Stirn.
»Das englische Silber gibt es nicht mehr«, bestätigte Judith, »und der Herzog hätte es nicht mehr zurückgeben können, selbst wenn er es gewollt hätte. Es ist eingeschmolzen worden und verarbeitet in den neuen Münzen, die von meinem Vetter geprägt wurden.«
»Und die sind jetzt überall im Umlauf«, sagte Salomon mit dem Berufsstolz des Münzmeisters. »Bedenkt außerdem, eine österreichische Münze hatte vorher immer einen anderen Silbergehalt als eine aus Köln, England oder Aquitanien, und bei dem Lösegeld war alles dabei, ganz zu schweigen von all den silbernen Bechern, Messern und Leuchtern. Wenn es also Graf Otto oder König Richard einfallen sollte, Rückgabeforderungen zu stellen und vom Kaiser oder Papst dafür
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