Das Spiel der Nachtigall
scheint in einem guten Zustand zu sein. Aber wenn Ihr Eure Zähne noch haben wollt, wenn Ihr jenseits der dreißig seid, dann sammelt im nächsten Jahr Walnüsse«, sagte sie. »Walnussschalen, natürlich ohne die grüne Außenrinde, sind sehr gut, um damit die Zähne dreimal am Tag zu reiben und zu reinigen.«
Er starrte sie an, als habe er einen echten ärztlichen Rat als Allerletztes erwartet. Doch ehe sie Zeit hatte, darüber ungehalten zu sein, schloss er seinen Mund wieder. Das Funkeln kehrte in seine Augen zurück: »Darf ich Euch auch einen ärztlichen Rat erteilen?«
»Ich dachte, Ihr dichtet.«
»Ein Sänger behandelt die Ohren, Herzen und Seelen«, erklärte Walther unbeirrt. »Aber im Moment sorge ich mich um Eure Haare, liebe Magistra. Ich weiß nicht, wie die Dinge in Köln stehen, aber hier ist man der Ansicht, dass einmal am Tag Luft an das Haar einer Frau gelangen sollte und dass man es kämmen muss. Da Ihr ja vorhabt, aufzubrechen, und dann Euer Haar auf jeden Fall unter Binde und Schleier gefangen sein wird, wäre jetzt der einzig richtige Zeitpunkt.«
»Ein misstrauischer Mensch könnte meinen, dass es Euch nur darum zu tun ist, mehr von mir zu sehen, als Euch zusteht«, sagte Judith. Der Umstand, dass sie dabei lächelte, hing nur damit zusammen, dass er ihr einen Titel verliehen hatte, der noch nicht der ihre war.
»Ein spitzfindiger Mensch würde erwidern, dass dies nur gerecht sei, denn schließlich habt Ihr meinen Rachen gesehen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, Ihr habt recht!«
Für einen kurzen Augenblick schien ein Schmetterling in ihrem Bauch zu erwachen. Sei nicht töricht, dachte Judith. Was ist schon dabei? W enn ich nicht auf Reisen wäre, würde ich mein Haar ohnehin offen tragen. Außerdem war ihr unter all dem Leinen mittlerweile wirklich warm; die Vorstellung, kurz, nur ganz kurz, es abzulegen, war verführerisch. Also begann sie, Kinnbinde und Schleier aufzulockern.
»Gestattet mir, Euch zu helfen.« Walther stand eilig auf.
»Das ist nicht nötig«, sagte ihr Vater, der gerade mit Salomon wieder den Raum betrat. Judith wusste, dass seine Dankbarkeit nicht unbegrenzt war. Nur noch eine schnelle Handbewegung, und sie hielt die Kopfbedeckung in den Händen. Es war ein gutes Gefühl. Sie wünschte sich, sie könnte auch ihre Flechten öffnen, doch das wäre zu weit gegangen.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte sie. »Brüht Euch mit der Kamille ein heißes Getränk und trinkt davon, so oft wie möglich.«
»Was, und Ihr verflucht noch nicht einmal den Morgen?«, fragte Walther. »Ich wusste, dass an Reinmars Tageliedern etwas nicht stimmen kann.«
Sie hatte keine Ahnung, worauf er anspielte, zumal es inzwischen Nachmittag war und die Sonne bald untergehen würde, so dass sie sich wirklich beeilen mussten. Ihr Unverständnis musste sich an ihrer Miene abzeichnen, denn Walther seufzte.
»Es ist nicht recht, dass eine schöne Frau über Zahnbehandlungen Bescheid weiß, aber nicht über die verschiedenen Arten von Poesie.«
Ein wenig von der Abneigung, die er zunächst in ihr ausgelöst hatte, kehrte zurück. Judith hieß den Ärger sogar willkommen. Er brachte sie gelegentlich dazu, unüberlegte Dinge zu sagen, aber nicht, sich wie eine Törin zu benehmen! »Was auch immer ein Tagelied ist«, erwiderte sie schnippisch, »es wird weder mich noch Euch noch sonst einen Menschen davor bewahren, fürchterliche Schmerzen zu empfinden, wenn ihm die Zähne im Mund verfaulen und gezogen werden müssen. Deswegen glaube ich auch nicht, dass es mir je etwas nützen wird. Gehabt Euch wohl, Herr Walther.«
* * *
Als Reinmar nach der Messe in das Zimmer zurückkehrte, das er mit den beiden Knappen und mit Walther teilte, fand er seinen Schüler vor, wie er zwischen Talglichtern emsig in seine Wachstafel kritzelte, während die Knappen bereits schliefen. Unter anderen Umständen hätte Reinmar etwas darüber gesagt, dass Walther es vorzog, in eigenen Belangen tätig zu sein, statt für den Herzog zu beten, der einen jungen Niemand wie ihn so großzügig aufgenommen hatte. Selbst Otto von Poitou war so anständig gewesen, an der Messe teilzunehmen, aber nicht Walther. Trotzdem war Reinmar zu erschöpft und zu traurig für einen Zornesausbruch. Es war nicht zu fassen, dass sein Gönner noch vor einer Woche gesund ausgeritten war, nicht in eine Schlacht, sondern in seinem Reich. Dass ein solcher Mann, der nie einen Feind gefürchtet hatte, von einem Sturz gefällt und durch eine Hölle von
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