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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Normannen. Judiths Akzent dagegen war noch viel zu stark, als dass sie ihre Herkunft hätte leugnen können. Es gab in Salerno einige Menschen, die sich an ihren Vater erinnerten, und so wurde er wieder aufgenommen, doch obwohl Judith an Vorlesungen teilnehmen und den Behandlungen, die von Ärzten durchgeführt wurden, beiwohnen durfte, weigerten sich die meisten Menschen, sich von ihr helfen zu lassen. »Tedesci Maledetti«, sagten sie und spien auf den Boden. Es half auch nichts, wenn ihr Vater beteuerte, dass nicht alle Deutschen gleich waren und auch die Menschen in anderen Orten, durch die sie gekommen waren, unter der Willkür der Herrschenden leiden mussten: Das soeben mit dem Kaiser verbündete Genua kämpfte gegen Venedig, Mailand gegen Bologna. »Die Toten in diesen zerstörten Orten sind wenigstens nicht von Leuten des Kaisers erschlagen worden«, schimpfte ein alter Mann, »die Frauen wurden nicht von Deutschen vergewaltigt, und deshalb ist das etwas ganz anderes.« Das war natürlich unsinnig, aber darauf einzugehen hätte nicht geholfen.
    Dann aber suchte eine Frau Judith auf, die zu große Angst hatte, um sich an einen Arzt oder eine Magistra zu wenden, die ihre Familie kannte. Wie viele der Frauen und Mädchen in Salerno war sie von mehreren Männern vergewaltigt worden, doch bei ihr hatte es keine Zeugen gegeben, und so hatte sie gegenüber ihrer Familie behauptet, dass ihr nichts geschehen sei.
    »Ich muss doch heiraten«, sagte sie zu Judith, während sie in einem Kräutergarten auf und ab gingen, um nicht belauscht zu werden. »Die Familie meines Bräutigams hätte mich nicht mehr haben wollen, und mein Vater auch nicht, wegen der Schande.« Sie war nicht schwanger geworden, so dass sie bisher mit der Lüge durchgekommen war, doch nun stand die Hochzeit bevor. Sie hatte so viel Angst, dass sie daran dachte, sich umzubringen. Ihre Jungfräulichkeit war dahin, und selbst, wenn sie die Wahrheit offenbarte und ihr Bräutigam wider alle Erwartung Verständnis zeigte, statt sie zurückzuweisen, würde sie mit ihm das tun müssen, was die Kriegsknechte mit ihr getan hatten. »Bei der Vorstellung«, gestand sie Judith, während ihr Tränen das Gesicht hinunterliefen, »dreht sich mir der Magen um.«
    »Es ist anders, wenn es in Zuneigung geschieht«, sagte Judith.
    Die junge Frau, die Salvaggia hieß, lachte ohne jeden Humor. »Sprecht Ihr da aus Erfahrung?«
    Damit rührte Salvaggia an einem Geheimnis, das Judith tief in sich beerdigt hatte und nur hin und wieder unerwünscht wieder den Weg an die Oberfläche fand. Ja, sie wollte sich selbst ernähren können, unabhängig von einem Mann, das hatte sie sich geschworen. Aber vielleicht musste sie es auch. Sie wollte, wenn es je einen geben würde, dem zukünftigen Ehemann auch nicht etwas beichten, was sie nicht bereut hatte. Es ihm erzählen, gewiss, denn Judith glaubte an Ehrlichkeit; wenn sie heiratete, dann würde sie einen Schwur leisten, der heilig war. Damit hatte ihr Mann ein Recht auf die Wahrheit.
    Es war in dem Jahr geschehen, als sie vierzehn geworden und ihre älteste Schwester gestorben war. Ihr Schwager, den sie bereits als Kind bewundert hatte, schien untröstlich. Doch dann hatte er sich von ihr trösten lassen, sogar mehr als das. Es war keineswegs so, dass sie sich verführt, gar ausgenutzt vorgekommen war; viele Mädchen in ihrem damaligen Alter waren schon verheiratet, und die Thora schrieb es geradezu vor: Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, hieß es im Devarim, das die Christen das fünfte Buch Moses nannten, so sollte seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer andern Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und mit ihr die Schwagerehe schließen. Und der erste Sohn, den sie gebiert, soll gelten als der Sohn seines verstorbenen Bruders, damit dessen Name nicht ausgetilgt werde aus Israel. Ihr Schwager hatte ihr versprochen, sie zu heiraten – und ihr Vater wohl seinen Segen gegeben, solange er nicht erfuhr, dass sie ein Bett vor der Ehe geteilt hatte –, aber dazu war es nicht mehr gekommen: Die Krankheit, die ihn plötzlich dahinraffte, musste bereits in ihm gesteckt haben. Am Ende war es ein Wunder, dass sie selbst überlebte.
    Ja, sie hatte es selbst gewollt. Doch das miteinander schlafen hätte anders sein sollen, da war sie sich sicher. Ihr Schwager hatte nur genommen, nie gegeben. Sie war jedes Mal froh gewesen, wenn das ganze Rein und Raus vorbei war, weil das erhoffte große

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