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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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nicht meine Freunde, und vor ihnen braucht Ihr auch keine Angst mehr zu haben. Der Bischof schickt sie fort vom Tross. Das wollte ich Euch sagen, deswegen bin ich gekommen. Aber tut doch nicht immer so, als wandertet Ihr furchtlos durch die Welt. Wenn Ihr das tätet, dann würdet Ihr mir entweder die Augen auskratzen oder zugeben, dass es vielleicht besser im Leben ist, vorwärts statt rückwärts zu schauen.«
    Sie ließ ihre Arme sinken. Er konnte sehen, dass ihre Finger sich öffneten und wieder schlossen. »Oh, ich schaue vorwärts«, sagte sie mit einer Stimme, die wie die überspannte Saite einer Fiedel zitterte.
    »Und wisst Ihr, was ich sehe? All die Arten, wie ein Mensch einen anderen Menschen umbringen kann. Nein, nicht mit dem Schwert oder durch den Strang, nicht wie Ihr und Euresgleichen. Es gibt viele Heilmittel, die man nur in kleinen Dosen verwenden darf, weil sie krank machen können, wenn man zu viel davon einnimmt. Manchmal, da können sie sogar töten. Es ist so einfach, viel leichter, als zu heilen, und ich denke jedes Mal daran, wenn ich auf den Hängen und Weiden Schneeglöckchen sehe, Krokusse, Rittersporn, Herbstzeitlose oder einfache Küchenschellen. Ich denke daran, wenn ich die Instrumente in Händen halte, die mein Vater benutzt hat, um Leben zu retten. Wir Ärzte wissen, wie man Messer führt, glaubt mir, besser als so mancher Soldat. Habt Ihr eine Ahnung, wie leicht es wäre, einen Aderlass an der falschen Stelle zu machen, oder ihn zu lange dauern zu lassen?« Blut war in ihre Wangen gestiegen, oder vielleicht war es auch nur die Sonne des heutigen Morgens, die sie verbrannt hatte. Walther fiel eine Geschichte ein, die Reinmar erzählte, eine heidnische Geschichte von dem Bildhauer Pygmalion, der sich eine Frau aus Marmor oder Elfenbein gemacht hatte, genau wusste Walther das nicht mehr, nur, dass die Frau wirklich geworden war, von der Flamme des Lebens erfüllt. Bis jetzt hatte er es sich nicht vorstellen können.
    »Und ich denke mir, warum nicht? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Außerdem ist es doch das, was ohnehin jeder von uns glaubt, nicht wahr? Von den Ärzten, denn Ihr habt uns Schlächter genannt, und von den Juden. Mein Vater war der beste Mann, den ich je gekannt habe, und ich stand da und musste mit anhören, wie dieser unwissende Neidling von einem Medicus und Euer eigener Herzogssprössling ihm vorwarfen, er sei schuld am Tod eines Mannes, der schon im Sterben lag, ehe überhaupt der Schatten meines Vaters auf die Schwelle fiel. Als er ein kleiner Junge war, da haben sie in Köln genau das Gleiche getan wie nun in Wien. Er hat es mir erzählt, so oft, und ich habe es nicht wahrhaben wollen. Er hat mir erzählt, wie die jüdische Gemeinde viel Geld an den Erzbischof dafür gezahlt hat, dass sie in die Feste Wolkenburg bei Königswinter fliehen durfte, um nicht umgebracht zu werden von den Kreuzfahrern. Wisst Ihr, wen Ihr heute gerettet habt, Herr Walther? Nicht mich. Ich habe mir den ganzen Tag lang überlegt, wie einfach es wäre, zu Euch und Euren Ritterfreunden zu gehen und mit Euch einen Becher Wein zu teilen, der Euch schlafen lässt, so tief und fest, dass Ihr nie mehr aufwachen würdet. Diese Träume sind es, wovor ich Angst habe, das ist es, wovor ich davonlaufe. Dass ich es tue und alles verrate, woran ich glaube, alles, was ich mir selbst für mein Leben geschworen habe.«
    Walther hatte einmal ein Sommergewitter erlebt, Blitze, die so nahe bei der Almhütte eingeschlagen waren, in die er sich geflüchtet hatte, dass er Luft und Erde um sich herum beben spürte und der Donner ihm durch den ganzen Leib fuhr, während er in Licht starrte, das noch heller als die Sonne selbst war. Das Erlebnis war gleichzeitig das Gefährlichste und Schönste gewesen, das er sich je hatte vorstellen können. Bis jetzt. Er sah Tränen über ihre Wangen laufen, obwohl sie keinen Laut mehr von sich gab, und ergriff ihre Hände, ohne nachzudenken. »Es tut mir leid«, flüsterte er und wusste nicht, was er meinte: sein eigenes Versagen in der Schenke, dass die Welt nicht anders war, dass sie in sich geschaut und ihre eigene Furcht gefunden hatte, oder einfach nur, dass sie weinte und er keine besseren Worte fand als ebendiese. »Es tut mir leid«, wiederholte er, flüsterte es ihr ins Ohr, weil er sie an sich gezogen hatte, und er spürte, wie sich ihre Finger, jene festen, so sicheren Fingerspitzen, die einst über die Haut seines Halses getanzt waren, in seine Schulter bohrten. Doch sie

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