Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
noch nicht die Zeit gehabt, die Verhältnisse zwischen sich und der Bürgerschaft erneut einzutrüben. Niemand hatte daher etwas dagegen, dass er sich mit seinen eigenen Mitteln in die Angelegenheit einmischte. Seine eigenen Mittel, das war ich: als der persönliche Untersuchungsbeamte Peters von Schaumberg noch frischer imAmt als der Kardinal in seinem. Das Summen der Fliegen klang laut in dem Gebüsch, doch noch lauter waren die Geräusche des Kampfes draußen auf der Straße, wo die Waibel Ulrich Wolfartshauser davon abzuhalten versuchten, ins Gebüsch zu brechen.
Als der Kaufmann japsend und mit Schaum vor dem Mund in die Herrenstube des Rathauses gestürmt war, um von seinem Fund zu berichten, stand dort bereits Ulrich Wolfartshauser, der Besitzer einer Steinmetzwerkstatt, der die Ratsherren dazu zu animieren versuchte, die Waibel in alle Himmelsrichtungen ausschwärmen zu lassen, um seine nichtsnutzige jüngste Tochter zurückzuholen, die mit Sicherheit von einem ebenso nichtsnutzigen jungen Herrn verschleppt worden war, der zu lange den Geschichten von heißblütigen Prinzen und schmachtenden edlen Frauen gelauscht hatte. Jetzt wand sich Wolfartshauser im Griff der Waibel und fluchte und stöhnte und weinte gleichzeitig, während wir um die Leiche herumstanden und uns die Hände vor die Münder hielten und hofften, dass die Waibel Wolfartshauser noch lange genug festhalten würden, um ihm den Anblick seiner Tochter zu ersparen. Der Stadtvogt hatte Tränen in den Augen.
Der Bischof sagte: »Nicht einmal in Dörfern, die von einem Landsknechtheer überfallen wurden, habe ich Ähnliches gesehen.« Und als sich ihm alle Blicke zuwandten, fuhr er grimmig fort: »Ähnlich zugerichtete Leichname schon, aber nicht mit einer derart eiskalten Ruhe.« Und er erklärte, wie still und stetig die Hand gewesen war, die hier die Klinge geführt hatte, und wie hastig und gewalttätig dagegen das Schwert eines vom Blutrausch irregewordenen, halb verhungerten Landsknechtes zustößt.
»Aber das ...«, stotterte der Stadtvogt, »der aufgebrochene Körper ... das herausgerissene ...«
»Wir wollen wieder nach draußen gehen«, sagte der Bischof. »Dieser Ort hat zu viel Unheiliges.« Er machte das Kreuzzeichen und wand sich durch das Gebüsch nach draußen. Ich spürte, wie der Stadtvogt mich am Ärmel zupfte, und wandtemich so schwerfällig ab wie ein alter Mann. Mein Herz pochte bis in meinen Hals, meine Augen brannten, mein Magen revoltierte von dem Anblick und dem Geruch, und in meinem Schädel wechselten sich Entsetzen und Mitleid ab mit dem profanen Gedanken: Fang bloß nicht zu kotzen an bei deiner ersten Leiche. Morgentau und Blut auf den Blumen am Flussufer, und die Vögel, die in den Zweigen darüber vor Lebenslust sangen.
Am Nachmittag schwärmten die Waibel des Rates, verstärkt durch ein Kontingent aus dem Fronhof, doch noch aus. Wolfartshauser hatte ausgesagt, dass die Dienstmagd seiner Tochter ebenfalls verschwunden sei, und das schon seit mehreren Tagen. Er habe ihr Verschwinden nur nicht gemeldet, weil er des Glaubens gewesen sei, sie sei voller Undankbarkeit einfach durchgebrannt.
Die Waibel fanden sie unweit des Leichnams von Wolfartshausers Tochter, ein bisschen aufwändiger versteckt, doch abgesehen von dem Umstand, dass sie bereits längere Zeit in der Hitze gelegen hatte, war sie ähnlich zugerichtet wie ihre Herrin.
Bis zum Abend war das Wort von den beiden Morden in der Stadt herum. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und einen weiteren hochsommerlichen Tag versprach, war es unmöglich, den Schatten zu übersehen, der sich trotz der strahlenden Witterung über die Häuser gesenkt hatte und sich in den folgenden Tagen weiter ausbreitete. Die jungen Töchter aus den guten Häusern, die bisher in Begleitung ihrer Dienstmägde ausgegangen waren, waren nun von finster blickenden männlichen Angehörigen des Gesindes umgeben, wenn sie sich überhaupt in den Gassen der Stadt blicken ließen. Die Töchter aus den weniger guten Häusern schlossen sich in Gruppen zusammen und blickten dennoch ängstlich über ihre Schultern, wenn sie in eine einsamere Gegend gerieten. Selbst die Milch-, Eier- und Besenverkäuferinnen strichen gemeinsam durch die Gassen, auch wenn sie sich dabei gegenseitig das Geschäft wegnahmen. Sechsergruppen von Waibeln der Stadtbehörden patrouillierten im Jakoberviertel und in den Pfahlsiedlungenvor den Stadttoren, für den Fall, dass sich die Vorurteile der reichen Bürger
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