Das Spiel des Saengers Historischer Roman
Stufen der Wendeltreppe hinunter.
»Was für ein gefälliger Irrwisch«, meinte Casta, als sie fort war. »Holla, was ist los, Engelin? Hat sie etwas gesagt, was dich beleidigt hat?«
Engelin hatte die Augenbrauen zusammengezogen, glättete die Stirn aber sofort wieder. Nein, sie wollte sich die Laune nicht verderben lassen.
»Hat sie nicht. Es ist nur, dass ich Minnesang nicht so schön finde. All diese schwülstigen Verse von schmerzlicher Sehnsucht und opfervoller Hingabe und steter Treue …«
»Ich höre sie gerne, Engelin.«
Das klang so traurig, dass Engelin sofort mit ihrer Tirade aufhörte und ihre Freundin umarmte.
»Du liebst deinen Ritter noch immer mit schmerzlicher Sehnsucht und steter Treue, nicht wahr?«, sagte sie dabei.
»Ja. Und vielleicht …«
Energisch richtete sich Engelin auf.
»Er ist hier. Das ›Vielleicht‹ müssen wir in ein ›Bestimmt‹ wandeln. Wir werden nachher darüber nachdenken. Jetzt legen wir erst einmal die Schleier an, damit wir zur Andacht gehen können.«
Es war auch an der Zeit, denn das Glöckchen der Kapelle rief sie mit seinem Klang zu den Gebeten.
Die sieben Todsünden
Die Kapelle war ein kleines Gebäude, eben groß genug, um die Bewohner der Burg und eine Anzahl Gäste aufzunehmen. Sie befand sich auf der Westseite des Innenhofs, links von ihr ruhten auf dem ummauerten Lichhof die Herren der Burg und ihre Familien, rechts schloss sich ein zweistöckiges Haus an, das der Verwalter und seine Familie sowie der Kaplan bewohnten. Ein schmales, hohes Fenster, durch dessen Grisettegläser mit dem feinen Rankenmuster die Abendsonne fiel, erhellte den weiß gekalkten Innenraum. Zwei bunt bemalte Heilige, ein Weib und ein Bärtiger, wachten in gegenüberliegenden Nischen über die Gläubigen, Blumen in blauen Krügen dufteten zu ihren Füßen. Unter dem Fenster stand der Altar, ein edler Marmortisch, auf dem eine kunstfertig gestickte Altardecke lag. In hohen Leuchtern rechts und links von dem hölzernen Kreuz verströmten goldgelbe Wachskerzen nicht nur Licht, sondern auch sanften Honigduft.
Es hatten sich bereits alle versammelt, als die Äbtissin hereinrauschte wie eine Kogge unter vollen Segeln und sich wie selbstverständlich vorne in der ersten Reihe aufbaute. Das Novizchen dümpelte wie ein leichtes Beiboot in ihrem Kielwasser auf den Wellen hinter ihr her und blieb in gebührendem Abstand von ihr stehen. Ein gekonnter Auftritt; ich musste ihn würdigen.
Magister Johannes, der Burgkaplan, erfüllte seine Pflicht
mit Inbrunst. Wie nicht anders zu erwarten, nahm auch er den Schweifstern zum Anlass, darüber zu predigen. Mit salbungsvoller Stimme rezitierte er Jesajas Klage über den Morgenstern, der vom Himmel stürzte und niederfuhr zum Totenreich, hinab in die tiefste Grube. Luzifers Schicksal sollte uns Mahnung sein, uns von den Sünden abzukehren. Außerdem beschwor er die Zuchtrute Gottes, die Jeremias in derartigen Himmelszeichen ankündigte, um uns die Folgen unserer bösen Taten vor Augen zu führen.
Den Wechselgesang der Litaneien jedoch stimmte er nicht sonderlich musikalisch an. Wettgemacht wurde diese Schwäche aber durch den volltönenden Gesang, der bei den Responsorien aus der Kehle der ehrwürdigen Mutter Äbtissin erklang. Dagegen verblassten die Antworten der anderen Gläubigen vollkommen. Ismael warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf. Meine Stimme wollte ich hier nicht ertönen lassen - die Äbtissin durfte ihren Auftritt ganz alleine genießen.
Ich hatte mich schräg hinten in der Kapelle aufgestellt, um kein Aufsehen zu erregen, denn ich wollte mir die Gesellschaft erst einmal in Ruhe ansehen. Während der Kaplan die sieben Todsünden heraufbeschwor, unterdrückte ich meine Belustigung. Ja, Hochmut war anwesend, die edle Frau Äbtissin verbreitete ihn wie eine Gloriole um sich. Den Geiz - der mochte bei den Kaufleuten zu finden sein, doch Hinrich van Dyke geizte zumindest nicht mit prunkvoller Kleidung für sich und seine Tochter. Eher mochte diese Sünde den Pächter plagen: Sein stoppeliges Gesicht trug eine Miene rücksichtsloser Habgier. Neid aber lag in den Augen des Höflings, der unseren Gastgeber, den Ritter Ulrich, verstohlen musterte. Und Zorn gärte unter dem Wams des Burgvogts Sigmund, dessen gerötete Wangen ein cholerisches Temperament verhießen. Faulheit unterstellte ich gerne den Dom- und Stiftsherren, deren reiche Pfründe ihnen oft genug Anlass gaben, sich den Lustbarkeiten der Welt zu widmen,
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