Das Spiel des Schicksals
Flora, die dem dünnen Strahl der Taschenlampe folgten. Sie waren etwa sieben oder acht Schritte gegangen, als Flora einen leisen Ruf ausstieß.
»Alles in Ordnung?«, fragte Cat und bemühte sich, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Flora war weiter zurückgeblieben, als sie gedacht hatte, und sie konnte sie in der Dunkelheit kaum erkennen.
Stille.
»Flora?«
»Ja … entschuldigt.« Ihr Gesicht kam plötzlich im Licht von Tobys Lampe zum Vorschein, so bleich wie ein Gespenst. »Schaut mal, wir haben es gefunden. Da.«
Und tatsächlich: An die gewölbte Wand zu ihrer Linken war mit roter Farbe die verschwommene Kontur des Rades aufgesprüht worden. Seine Form stach deutlich aus der Flut von Graffiti hervor. Flora streckte bereits die Hand aus und zog die Linien nach. Kurz darauf glänzte es metallisch in ihrer Handfläche. »Wir brauchen bloß eine«, sagte sie zu den anderen und schaute auf die runde Scheibe in ihrer Hand. »Aber ihr müsst euch an mir festhalten.« Und mit einem Aufblitzen der Münze war alles vorbei.
Auf der wirklichen Seite sah es in der Unterführung nicht viel besser aus. Es stank nach Urin, und der Boden war mit zerknüllten Chipstüten übersät. Aber nach den Erlebnissen jenseits der Schwelle kamen ihnen die Schnapsläden und Discountgeschäfte fast heimelig vor. Alle drei hasteten aus der Unterführung hinaus auf die Straße.
Kurz bevor sie die Mündung erreichten, schob sich jemand mit einem groben Ellbogenstoß an Cat vorbei, sodass sie stolperte. »He! «, rief sie dem Rücken des Mannes nach, der sie angerempelt hatte, und für eine Sekunde drehte er sich um. Sein Gesicht war ein grauer Schemen unter der Kapuze seines Sweatshirts. Sie dachte an die Jungen auf dem Mercury Square, an den schlaksigen Typen auf dem Computerbildschirm, an die Gestalt im Arkanum, die an der Feuerleiter emporgeklettert war. Aber da war er schon weg.
Es war erst halb zehn. Auch an einem Sonntagabend wimmelte es in den Straßen vor Autos und Menschen, und vor einem Kebabladen gegenüber standen die Leute Schlange. Cat schaute zur Brücke zurück und sah die beiden turmartigen Gebäude, die sich in den Nachthimmel erhoben. Überall schimmerte Licht durch die Fenster.
»Wow! «, sagte Toby und schüttelte den Kopf. »Ich meine: Wow! Das war ja absolut cool!«
»Cool?«, wiederholte Cat. »Cool?«
»Ach, komm schon. Ich dachte, das wäre irgend so eine weibliche Wunschvorstellung – Frauen, die mit den Wölfen heulen und so was. Das hat doch irgendwas mit dem Streben nach Macht zu tun.«
Cat musterte ihn ungläubig.
Er hüstelte und wechselte das Thema. »Ähm, ja, also … wir sollten überlegen, wie wir heimkommen. Da drüben ist Canary Wharf, also denke ich mal, dass wir nicht weit von … He, wo geht ihr denn hin?«
Flora humpelte über die Straße in Richtung eines Taxistandes. »Ich gehe nirgendwo hin«, sagte sie, ohne sich umzuschauen. Dann, zögernd: »Ihr könnt mitfahren. «
Sie folgten ihr. Flora sah entsetzlich aus. Ihr Haar war verstrubbelt, ihr Make-up verschmiert, die nackten Arme waren mit einer Gänsehaut überzogen, aber die Stimme, mit der sie dem Fahrer Anweisungen gab, ließ nicht an Autorität zu wünschen übrig. Sobald sie im Taxi saßen, ließ sie sich gegen die Lehne sinken und schlief ein. Toby dagegen verschwendete keine Zeit und verwickelte den Fahrer in ein lebhaftes – wenn auch einseitiges – Gespräch über die hiesige Hip-Hop-Szene.
Cat konnte es nicht fassen. Floras Gleichgültigkeit war eine Sache, Tobys Sorglosigkeit eine ganz andere. Sie erinnerte sich an seine leichtfertige – und, wie sich herausgestellt hatte, völlig falsche – Behauptung, dass Joker sich im Spiel frei bewegen und tun und lassen konnten, was sie wollten. Aber nachdem er die Welt des Arkanums mit eigenen Augen gesehen hatte, schien er entschlossener denn je, die ganze Sache als großes Abenteuer zu betrachten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Cat, wie die anderen beiden überhaupt ins Spiel gekommen waren. Aber sie zu fragen, hieße womöglich, selbst Fragen beantworten
zu müssen. Darüber, wie sie einen Mann in den Tod geschickt hatte.
Auch sie lehnte sich zurück und lauschte mit einem Ohr Tobys Geschnatter, nur unterbrochen durch das gelegentliche Grunzen des Fahrers und das Knistern des Funkgeräts. Draußen zogen die ruhiger werdenden Straßen vorbei, silbrig vom Regen.
»Hier muss ich raus«, sagte Toby, und Cat blinzelte. Sie wäre selbst beinahe eingeschlafen. Seine
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