Das Spiel des Schicksals
Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war weder jugendlich blond noch vom Alter weiß geworden, sondern irgendetwas dazwischen. Die Kleidung war schmucklos und schwarz, von unbestimmbarem Stil, und die Hände waren ihm auf dem Rücken gefesselt.
Toby fand seine Sprache wieder. »Ähm … Sollten Sie nicht eher mit dem Kopf nach unten hängen, wie auf der Karte?«
Der Mann wirkte amüsiert. »Seit das Los des Gehängten zum ersten Mal Gestalt annahm, wurde mein Schicksal in mannigfaltigen Bildern wiedergegeben.« Er seufzte, und die Blätter des Baums wisperten, wie zur Antwort. In dem Dämmerlicht der Kammer hatten sie einen kupferfarbenen Schimmer angenommen. Die Augen des Mannes schimmerten unschuldig und blau. »Möchtet ihr vielleicht wissen«, fragte er sanft, »wie das Spiel der Trümpfe seinen Anfang nahm?«
KAPITEL 10
»Es war einmal eine Stadt«, fing er an, »vor langer, langer Zeit, wie in einem Märchen – obwohl es Wirklichkeit war. Eine Stadt der Künste, voller Macht und Wissen, von dem vieles verloren gegangen ist. Und in dieser Stadt wurde jedes Jahr an einem hohen Feiertag eine Lotterie abgehalten, bei der die Menschen Geld bezahlten, um ein Los zu kaufen. Viele dieser Lose waren nur leere Zettel, aber ein paar von ihnen konnten gegen Preise eingetauscht werden. Manche dieser Preise waren praktisch, andere hübsch anzusehen, aber einige wenige waren kostbar.
Viele Bürger spielten in der Lotterie, aber die wohlhabende Klasse verweigerte sich ihr, weil sie es unter ihrer Würde fand, daran teilzunehmen. Bis in einem Jahr die Verantwortlichen eine Neuerung einführten. Die vier führenden Gilden der Stadt, die auch die Lotterie ins Leben gerufen hatten, verkündeten, dass sie von nun an Strafen unter die Preise mischen würden. Nur ganz wenige. Kleine Geldbußen oder Prüfungen, die zu Ehren der Götter absolviert werden mussten. Und zu ihrer Überraschung verdoppelten sich die Losverkäufe. Jetzt erforderte
es Mut, an der Lotterie teilzunehmen, und so wurde daraus eine Angelegenheit der Ehre.
Im nächsten Jahr stand die Lotterie nicht mehr allen offen. Einladungen wurden willkürlich verteilt. Die Preise waren verführerischer, die Strafen gefährlicher. Daher mussten die Gilden einen Orden gründen, dessen einzige Aufgabe es war, die Erfüllung der Lose zu überwachen. Die Mitglieder dieses Ordens mussten sich verpflichten, sich mit Leib und Seele Fortuna und ihrem Rad zu unterwerfen.
Und mit der Zeit wurden die Abläufe der Lotterie – oder des Spiels, wie es bald genannt wurde – immer komplizierter und ausgefeilter. Der Orden, der aus den Führern der vier Gilden bestand, traf sich im Geheimen, um sich zu beraten. Die Symbole der Lose wurden so komplex, dass bald nicht mehr erkennbar war, bei welchem es sich um einen Preis und bei welchem es sich um eine Strafe handelte. Ihre Entstehung war von Geheimnissen umwittert, ebenso wie die Erfüllung der Aufgaben. Über die Jahre entwickelte sich das Gerücht, dass die Götter selbst ihr Glück im Spiel versuchten, dass sie dabei durch die Träume der Menschen wandern und in andere Welten schauen könnten.
Mehr Zeit verstrich, und die Macht der Gilden schwand, ebenso die der alten Religion. Manche Leute behaupteten, das Spiel sei zu einer schändlichen und bösen Angelegenheit verkommen. Man sprach nicht mehr darüber, obwohl es weitergespielt wurde, bis die Stadt eines Tages in die Hände der Feinde fiel. Die Zerstörung war nahezu
vollständig, und die meisten Menschen glaubten, dass auch das Spiel vernichtet worden sei. Es wurde zu einem Mythos. Aber irgendwie hat etwas davon überlebt. Die Symbole tauchten in veränderter Form wieder auf – in Kartenspielen, in Gedichten und Prophezeiungen, in heiligen und weltlichen Gegenständen. Es wurde geflüstert, dass das Spiel Heimat in anderen Städten gefunden hatte und neue Spieler, die bereit waren, alles zu riskieren.«
Eine lange Stille folgte diesem Bericht. Während der Gehängte gesprochen hatte, hatte sich das Grün des Baumes zu einem spröden Braun und Gold gewandelt. Jetzt fielen die ersten Blätter, schwebten zitternd durch die Luft.
Toby schluckte nervös. »Aber … aber wenn Sie dabei waren, als das Spiel begann, damals, warum … ähm, warum sind Sie dann hier unten?«
»Es wurde für das Bestehen des Spiels unerlässlich, dass ein Spieler existiert, dessen Spielzug ewig dauert, hier, auf der Schwelle aller Schwellen. Und so wurde das Los des Opfers gezogen.« Er
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