Das Spiel des Schicksals
eines Besseren zu besinnen. »Ich habe mal mit einem Lehrer zusammengewohnt«, sagte er kurz angebunden.
»Mit einem Lateinlehrer. Puh, die verstehen wohl nicht viel Spaß, was?«
»Das kannst du laut sagen.« Geistesabwesend strich sich Blaine über den rechten Arm, dort, wo unter seinem Hemd die zerklüftete Narbe in sein Fleisch gegraben war.
»Wofür ist das da, Toby?«, fragte Cat, die den Eindruck hatte, dass ein Themenwechsel angebracht war. Sie deutete auf eine zwei Meter lange Stange mit einem runden Gewicht am Ende.
»Mensch, das ist doch das Pendel.« Toby beleuchtete es mit seiner Taschenlampe, und sie sahen, dass auf der Oberkante des Gewichts zwei ordentliche Münzstapel lagen. »Pennys! So justieren sie auch die Uhr von Big Ben. Man fügt Münzen hinzu oder nimmt welche weg, um das Pendel zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Es ist nicht das Gewicht der Münzen, das den Unterschied ausmacht, sondern die Höhe des Stapels. Dadurch wird der Schwerpunkt verändert, versteht ihr?«
»Faszinierend.« Cat unterdrückte ein Gähnen.
Aber Toby sah nachdenklich aus. »Mehr Münzen … Das kann kein Zufall sein. Ich frage mich …« Er beugte sich vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe genau auf die Stapel. »Aha! Die oberste Münze auf dem linken Stapel ist gar keine Münze. Es ist das Ass der Münzen!«
»Toby, warte. Wir sollten … «
Aber es war zu spät. Er beugte sich schon vor und hob das Ass auf. Eine Sekunde später fing das Pendel an zu schwingen, und die Räder drehten sich zögernd.
Toby betrachtete verwirrt die kleine Tonscheibe in seiner Hand. »Aber das verstehe ich nicht – es ist doch nicht das Pendel, das die Uhr antreibt.«
»Seit wann ergibt irgendetwas im Arkanum einen Sinn?«, fuhr Cat ihn an. Sie hatte ein ungutes Gefühl. »Wir haben das zweite Ass, also sollten wir schleunigst von hier abhauen. Flora!«, rief sie, während sie mit der freien Hand nach dem Würfel tastete. »Wir gehen!«
»Okay, okay, ich komme«, tönte eine Stimme von oben. »Was habt ihr denn bloß mit der Uhr angestellt?«
Flora kam zu ihnen herabgestiegen. Als sie noch vier oder fünf Stufen von dem Steg entfernt war, fing eine Glocke an zu läuten. Erst eine, dann noch eine, dann eine ganze Kakophonie. Mitternacht.
Niemand musste Toby sagen, dass das ganz und gar unmöglich war. Sie alle hatten die zerrissenen Kabel gesehen. Und auch das Geläute selbst klang falsch: hart, disharmonisch, donnernd. Der Trumpf der Zeit hatte zugeschlagen.
Flora schrie auf, als die Treppe zu schwanken begann. Sie bebte im Rhythmus der dumpf klingenden Bronze. Von oben ertönte das Klirren von Glas, und durch die Treppe peitschte ein sandiger Wind. Einige Sekunden lang schwankte und schaukelte Flora über dem Uhrwerk, sich an das Geländer klammernd wie ein Seemann
an die Reling eines vom Sturm hin und her geworfenen Schiffes. Dann riss das Metall mit einem ohrenbetäubenden Kreischen. Die Treppe brach in sich zusammen und krachte in Trümmern auf den Steg herab.
Irgendwie hatte Flora es geschafft, oberhalb des Trümmerhaufens zu bleiben, der mit seinem ganzen Gewicht auf den schmalen Streben der Plattform lastete. Es sah nicht so aus, als ob der Steg das lange aushalten würde – bei der kleinsten Bewegung von Flora würde alles in sich zusammenstürzen und sie alle würden in das spitze und scharfe Räderwerk der Maschine unter ihnen fallen.
Die Glocken läuteten, lauter und immer lauter.
»Wir müssen die Uhr anhalten!«, schrie Blaine. Er deutete auf die Stäbe, die die Zeiger antrieben und die ursprünglich parallel zur Treppe verlaufen waren. Deren Zusammenbruch hatte sie kurz oberhalb der Halterung durchtrennt, sodass sie jetzt schief und krumm von der Decke herabhingen, etwa dreißig Zentimeter oberhalb von Floras Kopf.
Im nächsten Moment war Blaine auf die unterste Strebe des Rahmens gestiegen und beugte sich gefährlich weit nach vorn, um den Stab zu packen. Floras weißes Gesicht stach deutlich aus den dunklen Trümmern heraus. Selbst wenn sie den Stab dazu benutzen konnten, den Lauf der Uhr aufzuhalten, ehe die Plattform, auf der sie standen, zusammenstürzte, hatten sie keine Ahnung, wie lange diese Bremse Bestand haben würde. Der Mechanismus hatte, genau wie die Glocken, ein unberechenbares Eigenleben entwickelt.
Blaine griff nach dem Stab und verfehlte ihn. Nur Toby, der ihn an der Hüfte packte, bewahrte ihn davor, abzustürzen.
Beim nächsten Versuch erwischte Blaine das Ende des Stabs.
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