Das Spiel seine Lebens
schreckte ihn auf.
»Dekan Gordon?«
»Ja«, schrie er fast. Sein Herz raste wie das eines Kaninchens.
»Hier möchte jemand mit Ihnen sprechen. Sie hat keinen Termin, aber ich dachte, vielleicht wollen Sie mit ihr reden.«
Ediths Stimme war ged ämpft, sie flüsterte wie in einer Kirche.
»Wer ist es?«, fragte er.
»Jessica Culver. Die Schwester von Kathy.«
Panik fuhr kalt wie ein Eiszapfen in sein Herz.
»Dekan Gordon? Dekan Gordon? Ist alles in Ordnung?«
Im Prinzip hatte er keine Wahl. Er musste mit ihr reden und herausbekommen, was sie wollte. Alles andere w ürde ihn verdächtig machen.
Er öffnete die unterste Schublade und schaufelte alles hinein, was auf seinem Schreibtisch lag. Er schob sie zu, zog sein Schlüsselbund aus der Tasche, und schloss den Schreibtisch ab. Sicher ist sicher. Dann öffnete er die Bürotür.
»Schicken Sie Miss Culver herein«, sagte er.
Jessica war mindestens ebenso sch ön wie ihre Schwester, und das wollte eine ganze Menge heißen. Er überlegte, wie er sie empfangen sollte, und entschied sich für den Bestattungsunternehmer-Modus - distanziertes Mitleid und warme Professionalität.
Er sch üttelte ihre Hand mit sanftem aber bestimmtem Druck. »Miss Culver, es tut mir sehr Leid, dass wir uns unter solchen Umständen kennen lernen. Wir schließen Ihre Familie in diesen schweren Tagen in unsere Gebete ein.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie mich ohne Termin empfangen.«
Mit einer kurzen Handbewegung wischte er diese Bemerkung beiseite. »Bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Limonade?«
»Nein, vielen Dank.«
Er ging wieder zu seinem Stuhl. Er setzte sich und legte die H ände auf dem Schreibtisch zusammen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich brauche die Akte meiner Schwester«, antwortete Jessica.
Harrison sp ürte, wie sich seine Finger verkrampften, verzog jedoch keine Miene. »Die Universitätsakte Ihrer Schwester?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Es hängt mit ihrem Verschwinden zusammen.«
»Verstehe«, sagte er bedächtig. Er war überrascht, dass seine Stimme so ruhig klang. »Soweit ich weiß, hat die Polizei die Akte sehr gründlich durchgesehen und jedes Blatt kopiert.«
»Das ist mir bekannt. Ich möchte mir die Akte selbst ansehen. «
»Verstehe«, wiederholte er.
Einige Sekunden verstrichen. Jessica richtete sich auf. »Gibt es da irgendwelche Probleme?«, fragte sie.
» Nein, nein. Nun ja, eventuell. Ich fürchte, es wäre möglich, dass ich Ihnen die Akte nicht geben kann.«
»Was?«
»Ich meine, ich bin nicht sicher, ob ich sie Ihnen aushändigen darf. Bei Eltern ist das kein Problem, aber bei Geschwistern weiß ich es nicht. Ich müsste das mit unserer Rechtsabteilung klären.«
»Ich werde warten.«
»Äh, gut. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das nebenan zu tun.«
Sie stand auf, drehte sich um und blieb stehen. Sie sah ihn über die Schulter an. »Sie kannten meine Schwester, nicht wahr, Dekan Gordon?«
Es gelang ihm zu l ächeln. »Ja, ich kannte sie. Eine wunderbare junge Frau.«
»Kathy hat für Sie gearbeitet?«
» Akten sortiert, Telefondienst und was sonst noch so anfällt«, sagte er schnell. »Sie hat gute Arbeit geleistet. Wir vermissen sie wirklich sehr.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass es ihr gut ging?«
»Inwiefern?«
»Vor ihrem Verschwinden«, fuhr Jessica fort, während ihr Blick sich in seine Augen bohrte, »hat sie sich da seltsam verhalten?«
Auf seiner Stirn bildeten sich Schwei ßperlen, doch er wagte nicht, sie abzuwischen. »Nein, mir ist nichts aufgefallen. Sie machte einen ganz normalen Eindruck. Warum fragen Sie?«
»Ganz allgemein. Ich warte vorne.«
»Danke.«
Sie schloss die T ür.
Harrison atmete lange und tief aus. Was nun? Er musste ihr die Akte geben. Ansonsten machte er sich mehr als verd ächtig. Doch er konnte die Akte natürlich nicht einfach aus der untersten Schublade seines Schreibtischs ziehen und Jessica aushändigen. Nein, er würde ein paar Minuten warten, ins Archiv gehen, diese Bitte »persönlich« bearbeiten, und dann mit der Akte zurückkommen.
Wozu, fragte er sich, brauchte Jessica Culver die Akte? Hatte er etwas übersehen?
Nein. Er war sich ganz sicher.
W ährend des ganzen letzten Jahres hatte Harrison gehofft und gebetet, dass dies alles vorbei wäre. Doch er hätte es besser wissen müssen. Solche Sachen waren einfach nicht totzukrie gen. Sie verstecken sich, schlagen Wurzeln, wachsen heimlich, und dann treiben sie wieder aus.
Kathy
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