Das Spiel
abzusondern. Wir nehmen den rechten Ausgang neben der Statue von Samuel Adams. Während wir die breite Sandsteintreppe hinauflaufen, ziehe ich meinen Ausweis unter meinem Hemd hervor. Vivs Ausweis schlägt bereits gegen die Knöpfe ihres Jacketts. Eben noch Tourist und jetzt Mitarbeiter.
»Mist ...!« Viv deutet nach rechts, als wir oben ankommen. Zwei Officers kommen durch den Gang auf uns zu. Sie haben uns noch nicht gesehen, aber ich will kein Risiko eingehen. Ich ziehe Viv um die Marmorbalustrade herum weg vom Hauptkorridor. Ein frei stehendes Schild verkündet: Keine Führungen über diesen Punkt hinaus. Ich laufe so schnell daran vorbei, daß ich es beinahe umwerfe. Hier war ich schon. Mitarbeiter dürfen hier entlanggehen.
Der Flur endet vor einem schmiedeeisernen Tor mit einem kleinen Bogen.
»Erstaunlich, nicht?« Ich versuche, möglichst lebhaft zu klingen.
»Unglaublich.« Viv spielt mit. Hinter dem Tor steht eine rechteckige Vitrine mit einem schwarzen Samttuch. Es ist über eine sargähnliche Kiste drapiert. Das Schild daneben informiert uns darüber, daß es sich um das hölzerne Leichengerüst handelt, auf dem die Särge von Lincoln, Kennedy, Lyndon B. Johnson und allen anderen Präsidenten ruhten, die jemals im Capitol aufgebahrt worden sind.
Das Klacken der Absätze verrät mir, daß die beiden Polizisten gleich hinter uns vorbeigehen werden. Wir versuchen zwar, uns wie Mitarbeiter zu geben, fühlen uns aber eher wie Gefangene. Wir umklammern die Gitterstäbe und starren in die winzige Zelle. Ursprünglich diente dieser kleine, feuchte Raum im Zentrum des Ca-pitols als Grabmal für George und Martha Washington. Heute sind sie im Mount Vernon bestattet. In diesem Raum wird nur noch das Sarggerüst aufbewahrt. Ich schließe die Augen. Die Polizisten kommen näher. Ich reiße mich zusammen, aber selbst ohne die sterblichen Überreste der Washingtons riecht es in dieser kleinen Kammer nach Tod.
»Harris, sie kommen ...«, flüstert Viv.
Nun sind die Schritte direkt hinter uns. Einer der beiden bleibt stehen, als sein Funkgerät rauscht. Viv betet leise.
»Ja, wir sind gleich da«, sagt der Beamte.
Die Schritte werden schneller und - entfernen sich.
Viv reagiert wie üblich als erste. Sie wirbelt herum und späht in den Korridor. »Die Luft ist rein«, sagt sie. »Ja, sie sind weg.«
Ich mag mich nicht umdrehen und halte mich immer noch an dem Gitter fest.
»Harris, wir müssen uns beeilen ...«
Sie hat recht. Wir haben es fast geschafft. Als ich jedoch auf dieses schwarze Leichentuch starre, das regungslos auf dem beinahe einhundertfünfzig Jahre alten Sargständer liegt, beschleicht mich das Gefühl, daß wir die nächsten Leichen sind, die hier herumliegen, wenn wir nicht höllisch aufpassen.
***
»Bist du sicher, daß es hier langgeht?« Viv läuft voraus, obwohl ich eigentlich führen sollte.
»Geh weiter«, sage ich ihr, als sie dem Flur nach rechts folgt. Wir dringen immer tiefer in die Korridore des Untergeschosses ein. Im Unterschied zum Rest des Gebäudes sind die Flure hier eng und vollgestellt, ein Labyrinth aus willkürlichen Biegungen, das uns an Müllräumen, Lagern und Werkstätten vorbeiführt. Von den Elektrikern über die Klempnerei bis zur Aufzugwartung. Zu allem Überfluß wird die Decke immer niedriger, je weiter wir gehen. Wasserrohre und Kabelkanäle führen direkt darunter entlang. Matthew hat sich immer beschwert, weil er sich ständig ducken mußte. Viv und ich haben dieses Problem noch nicht.
»Schwörst du, daß du dich hier auskennst?« fragt Viv, als die Decke noch niedriger wird.
»Natürlich«, versichere ich ihr. Ich kann ihr die Nervosität nicht verübeln. In den stärker frequentierten Abschnitten sorgen Schilder an den Wänden dafür, daß sich Abgeordnete und Mitarbeiter nicht verirren. Mein Blick streift das Spinnennetz aus Rissen an der Wand. Wir haben seit Minuten kein Schild mehr gesehen. Je weiter wir kommen, desto mehr ausrangierte Büromöbel stapeln sich in den Korridoren. Kaputte Aktenschränke, alte Polsterstühle, große Kabelrollen, Rollmülleimer und sogar ein Haufen verrosteter Wasserrohre.
Seit dem letzten Hinweisschild zu einem Aufzug ist uns keine Menschenseele mehr begegnet. Das einzige Lebenszeichen ist das Summen der Maschinen aus den angrenzenden Maschinenräumen. Viv geht immer noch voraus, aber nach einer scharfen Rechtsbiegung bleibt sie unvermittelt stehen. Ihre Schuhe rutschen über den staubigen Boden. In dem Gang hinter
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