Das spröde Licht: Roman (German Edition)
verschwunden. Jacobos Verletzung war als ›T10 komplett‹ eingestuft, das heißt, dass er ab dem zehnten Brustwirbel gelähmt war. Manches wusste ich über Rückenmarkverletzungen noch von meinem Medizinstudium her, aber ich habe mich auch im Internet und in Fachliteratur informiert. Außerdem habe ich viel von Michael O’Neal gelernt, Jacobos jungem Freund, der sich so gerne wie ein Arzt ausdrückte.
»Nicht alle Patienten mit Rückenmarkverletzungen leiden an neuropathischen Schmerzen, die auch als Anführungszeichen unten Phantomschmerzen Anführungszeichen oben bekannt sind«, sagte Michael. »Als Mittelwert für das Auftreten von chronischen Schmerzen bei Patienten mit Rückenmarkverletzungen werden 65 Prozent angegeben, von denen etwa ein Drittel als starke Schmerzen eingestuft werden, die sich, wie bei Jacobo und mir, manchmal ins Unerträgliche steigern. Und das Paradoxe dabei ist, Mister David, dass diese Schmerzen überhaupt nichts von einem Phantom haben, sondern absolut real sind. Die Qual wird manchmal einfach zu groß, so als würde man in der Mitte des Körpers zersägt oder bekäme die Beine ins Feuer gehalten. Einfach zu viel. Ist das korrekt, Jacobo?«
»Korrekt, Professor O’Neal«, antwortete Jacobo, und Michael lächelte geschmeichelt.
An jenem Tag erschien er gegen vier Uhr, sprach wenig und blieb nur ein paar Minuten. Es ist möglich, dass Jacobo ihm etwas von seinen Absichten erzählt hatte und dass Michael hoffte, von uns Neues zu erfahren, denn er fragte eigentlich nur der Form halber, ob Jacobo da sei, und hörte gar nicht richtig zu, als wir ein paar Einzelheiten von seiner angeblichen Reise mit Pablo nach Miami erzählten.
zwölf
Um halb fünf riefen sie wieder an. Pablo sagte, der Arzt würde auch nicht um elf Uhr abends kommen, sondern erst um sechs am nächsten Morgen. Ich war am Telefon, und Pablo legte, ohne noch mehr zu sagen, bald wieder auf, denn Jacobo hatte sehr starke Schmerzen und musste massiert werden. Mit Sara sprachen sie nicht. »Sag Mamá, sie soll sich keine Sorgen machen, der Arzt ist okay, um sechs wird er bestimmt da sein«, sagte Pablo. Diesmal reagierte Sara nicht gleich. Sie drückte nur fest meine Hand und starrte auf den Fußboden.
»Und wenn er es sich anders überlegt?«, sagte sie dann.
»Der Arzt?«
»Nein, Jacobo.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nicht, was ich denken sollte, nicht, was ich fühlen sollte. Keiner wollte seinen Tod, er nicht, sie nicht, ich nicht, überhaupt niemand, und das Leben klammert sich wie verrückt an diese Welt. Die Kakerlaken in ihren dunklen Spalten, die Pflanzen in Mauerritzen oder auf nackten Felsen.
»Bei diesen fürchterlichen … Aufschüben«, fügte Sara hinzu.
Ich trat ans Fenster. Unten, auf einem der Gräber, stand eine Statue der Muttergottes und strahlte innigsten Frieden aus. Wenn ich doch gläubig wäre, dachte ich, dann würde ich jetzt in eine Kirche gehen, beichten (obwohl ich nicht wüsste was), beten. Wie gerne hätte ich meine Schutzgötter, um ihnen jetzt ein Kaninchen zu opfern, Räucherstäbchen anzuzünden, Früchte und Blumen darzubringen. Aber für mich gab es keine Muttergottes, keine Schutzgötter. Für mich gab es nur diese Wolken, diese Tauben, die gerade vorbeiflogen, diese Bäume, diese strotzend bunte Ichlosigkeit, die keine Konturen hat, diesen blühenden Rosenstrauch, diese unbeschreibliche Fülle, die von der Zeit bewegt wird und die immer harmonisch ist, gleichviel ob sie Gutes oder Schlechtes bedeutete.
»Alles wird seinen Lauf nehmen«, sagte ich zu Sara. »Alles wird gut.«
»Glaubst du?«, fragte sie.
James und Debrah waren zu ihrer Wohnung oben in der 125th Street, Ecke Broadway gefahren, um die Pflanzen zu gießen und sich frische Sachen anzuziehen; sie wollten wiederkommen, um auch die zweite Nacht bei uns zu sein. Venus, berückend schön in ihrer weißen Berufskleidung, war zu einem Patienten in der Upper East Side gegangen. Arturo arbeitete an manchen Abenden als Tontechniker im CBGB, einem bekannten Rockmusik-Club in der Bowery Street. Um sich abzulenken, wollte er diesen Abend hingehen und duschte gerade, bevor er sich auf den Weg machte. Es war schon fünf Uhr nachmittags.
Die Zeit bewegte sich wie ein Rad, das uns immer stärker die Knochen zermalmte.
Sara rief ihre Geschwister an. Sara hatte drei Schwestern und zwei Brüder. Die beiden Brüder hatten mit Anfang 30 Glatzen bekommen, während Saras Haar und das ihrer Schwestern immer voller,
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