Das Steinbett
haben. Betroffen waren die prächtigsten Exemplare der neuen Blumenkohlsorte mit ihren festen, schönen Köpfen, die zwar recht klein, aber einmalig lecker waren. Jetzt würde sie sie ausreißen müssen, aber sie zögerte.
Zu dumm, daß sie es nicht früher bemerkt hatte. Vielleicht hätte man dann wenigstens einige der Pflanzen retten können. Was hatte sie gearbeitet, vorkultiviert, Saatkästen und Blumentöpfe hin und her getragen, unzersetzten Stallmist untergegraben, abgehärtet, gelüftet und mit alten Flickenteppichen abgedeckt, wenn die Nachtluft vom Bach heraufzog. Den tückischen kalten Luftzug hatte sie ausgetrickst, nicht aber den Pilz.
Mit schnellen Bewegungen riß sie die deformierten Köpfe aus der Erde. Einer nach dem anderen landete in dem Plastiksack neben ihr, den sie in die Mülltonne werfen würde. Der Pilz würde in der kommunalen Müllverbrennungsanlage brennen und ihren sorgsam angelegten Komposthaufen nicht befallen.
Sie richtete sich auf, und für einen Moment wurde ihr schwindlig. Als sie die Augen wieder öffnete und die Hand ausstreckte, so als suche sie nach einem Halt, wußte sie, daß er nicht kommen würde. Eigentlich hätte er gestern schon kommen sollen, aber er hatte sich nicht einmal bei ihr gemeldet. Mit jeder Minute, die verging, wurde es immer wahrscheinlicher, daß er nie mehr zu ihr kommen würde.
Stolz hatte sie ihm den Blumenkohl gezeigt. Er hatte gelacht, sich vorsichtig über den Rahmen des Frühbeets gelehnt, um seinen Anzug nicht schmutzig zu machen, und etwas über die Gemüsetheke im Supermarkt gesagt. Er zog sie immer auf, aber sie wußte, daß er junges Gemüse liebte.
»Butter«, sagte sie laut.
Eine fast schon unnatürliche Wärme hing über der Erde. Der Frühling war ideal gewesen, seit dem 3. April hatte es keinen Nachtfrost mehr gegeben. Jetzt kam die Wärme. Die Sonnenfallen waren von innen beschlagen. Die kleinen Holzkeile, die sie zum Belüften benutzte, waren so weit wie möglich eingeschoben, so daß das Frühbeet aussah wie eine Reihe platter, plumper und glänzender Tiere mit aufgesperrten Mäulern. Das Kondenswasser am Glas tropfte leise auf Kohl, Zwiebeln, Möhren und Wasserrüben herab. Von letzteren hatte sie schon geerntet; kleine, zarte Köstlichkeiten.
Sie wußte es. Er würde nicht mehr kommen. Das Gefühl, ausrangiert worden zu sein, saß wie ein Stachel in ihrer Brust. Er liebte sie, das wußte sie, aber das war kein Trost. Es machte das Ganze nur noch idiotischer.
Sie nahm den Sack und schleppte ihn weg. Ihr Blick war konzentriert, und sie atmete ruhig, genau wie der Psychologe es ihr geraten hatte. »Keine Ablenkungen, konzentrieren Sie sich darauf, was Sie tun«, hatte er gesagt, »erledigen Sie alles der Reihe nach, ganz wie Sie wollen, aber geben Sie nicht auf.«
Ihre Muskeln arbeiteten, der Sack hüpfte über den Schotter. Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Sie war sich bewußt, daß ihr Gemüsegarten vor allem eine therapeutische Funktion erfüllte. Das systematische Pflücken und Hantieren. Sie konnte unmöglich alles aufessen, was sie erntete. Vor allem nicht jetzt.
Am Fahnenmast hockte Michel, das Eichhörnchen, das ihr nun schon seit fast zwei Jahren Gesellschaft leistete. Es trieb vor allem Unfug, und sie wußte, daß es die Vogelnester plünderte. Sie hatte das Tier einmal überrascht, als es auf dem Meisennistkasten am Giebel der alten Waschküche saß, aber was machte das schon, es kam immer wieder, es war ihr Freund.
Gabriella schnalzte ein wenig mit der Zunge, wie sie das immer tat. Michel blickte auf, machte ein paar Sprünge und verschwand.
Sie lehnte den Sack an die Mülltonne. Die Männer von der Müllabfuhr würden ihn schon mitnehmen. Sie konnte sie mit Radieschen bestechen.
Der Deckel des Briefkastens stand offen, und ihr fiel ein, daß sie noch gar nicht die Zeitung herausgeholt hatte. Das Bild auf der ersten Seite fiel ihr sofort ins Auge. Sie las die Überschrift und brach über der niedrigen Spierstrauchhecke zusammen, die das Grundstück umzäunte.
Als sie wieder zur Besinnung kam, war das erste, was sie sah, Blut. Erneut wurde ihr schwindlig, und sie mußte darum kämpfen, das Bewußtsein wiederzuerlangen. Ein Zweig der Hecke hatte die Haut an ihrem Arm aufgerissen. Sie betrachtete das Blut, das bereits geronnen war, mit starrem Blick.
Um sich aufzurappeln, die schreckliche Zeitung aufzuheben und aufzustehen, brauchte sie eine halbe Minute. Sie ging zum Haus, nahm die Treppe mit fünf langsamen
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