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Das Steinbett

Das Steinbett

Titel: Das Steinbett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
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in dem engen Raum hinter der Bühne.
    Daran hatte Lindell denken müssen, als sie Viola kommen sah. Die alte Frau in ihrem monströsen maulwurfbraunen Mantel mit abgewetztem Pelzkragen war inzwischen vor dem Hühnerhaus stehengeblieben. Auf dem Kopf trug sie eine graue Strickmütze und an den Füßen die obligatorischen Stiefel mit umgeschlagenem Schaft.
    Mittsommer. Die Sonne brach gerade durch die Wolkendecke. Viola hatte die Nester im Hühnerhaus geplündert, war dann auf den Hof getreten und stand nun reglos da. Sie beobachtete Lindell, wie sie vor das Haus fuhr und parkte. Die Sonne beschien Violas magere Gestalt. Sie lächelte, nicht allzu herzlich oder lange, aber doch so, daß Lindell ein wenig von ihrer Nervosität ablegte. Sie stieg aus dem Wagen und ging mit schnellen Schritten zu der alten Frau.
    Sie standen sich gegenüber. Ein halbes Jahr war es jetzt her, daß sie sich gesehen hatten. Lindell unterdrückte den Impuls, die alte Frau zu umarmen. »Frohes Mittsommerfest!«
    Violas Antwort bestand in einem Schnauben. »Die Hühner haben sich frei genommen«, sagte sie mißmutig und ruckte an dem Korb in ihrer Hand, in dem etwa zehn Eier auf Zeitungspapier lagen.
    »Das reicht bestimmt für uns«, meinte Lindell.
    »Hast du zufällig Victor gesehen?« fragte die alte Frau. »Er wollte heute vormittag vorbeikommen.«
    Sie schaffte es immer, es so klingen zu lassen, als käme der Besuch des Nachbarn ungelegen, aber Lindell wußte, daß Viola niemanden lieber sah als eben diesen Victor. Sie waren auf benachbarten Höfen geboren worden, zusammen in die Schule gegangen und hatten ihr ganzes Leben als Nachbarn auf Gräsö gelebt. Vielleicht hatte sie früher auch gehofft, einmal mit ihm zusammenzuleben. Daraus war nichts geworden, aber Viola und Victor bildeten das rührendste und lebendigste Beispiel einer lebenslangen Freundschaft, das Lindell je gesehen hatte.
    »Es ist doch erst halb zehn«, sagte sie.
    »Er trödelt immer so.«
    Die alte Frau ging ein paar Schritte auf das Haus zu, blieb dann aber stehen, blinzelte zu Ann hinüber und hieß sie mit ungewohnt freundlicher Stimme willkommen, um anschließend weiterzugehen.
    Lindell schaute ihr nach. Die Stiefel schlappten, und der verschlissene Mantel sah aus, als könne er sich jeden Moment in seine Einzelteile auflösen. Sie schien einen unerschöpflichen Vorrat abgetragener, alter Klamotten zu besitzen, die aus Kammern und Koffern hervorgeholt wurden. Lindell vermutete, daß der Mantel ursprünglich Violas Mutter gehört hatte. Er sah jedenfalls aus, als wäre er im gleichen Alter wie Viola.
    Die alte Frau schlug mit einem lauten Knall die Verandatür zu und ließ Ann Lindell alleine auf dem Hof zurück. Hätte sie die alte Frau nicht so gut gekannt, hätte sie sicher das Gefühl gehabt, nicht willkommen zu sein, aber so war eher das Gegenteil der Fall. Die Alte war wie immer, nichts hatte sich im letzten halben Jahr verändert. Lindell kam als gute Freundin.
    Edvard hatte sich noch nicht gezeigt, und Viola hatte ihn mit keinem Wort erwähnt. Lindell nahm an, daß er unten am Meer war, und ging um die Hausecke herum, um ihn von dort aus eventuell sehen oder hören zu können.
    Seit Weihnachten hatten sie sich nicht mehr gesehen. Würde er sich auch nicht verändert haben? Wie würde er sie empfangen?
    Sie schälte sich aus der dünnen Sommerjacke, und der Wind trug den Geruch des Meeres zu ihr herauf. Das Zwitschern der Vögel, der schwere Duft des Mädesüß. Die Erlenzapfen vom Vorjahr lagen wie große Hasenkötel auf der sonnenwarmen Erde verteilt. Gräsö. Sie atmete das Wort, ließ es ihre Lungen füllen.
    Sie schloß die Augen. Möwenschreie erklangen über der Bucht, das Geräusch gehörte jetzt ihr. Auch wenn der Nordostwind das Wasser zu einer unruhigen, brodelnden, dunkelgrünen Masse aufpeitschte, lag ihr Leben in diesem Moment doch spiegelblank.
    Sie gab es nur an diesem Ort, in der Anziehungskraft zwischen Violas Haus, einem hölzernen Palast für Schärenfürsten und -fürstinnen, ihrem Märchenschloß, und der schweren Masse des Meeres. Sie dachte an Edvard. Seine Hände über der graublau schimmernden Oberfläche, sein Lächeln und das Spiel seiner Muskeln unter dem fadenscheinigen T-Shirt, wenn er sie mit ruhigen und dennoch kräftigen Schlägen auf immer tieferes Wasser hinausruderte.
    Im Ruderboot hatte sich ihr eine der seltenen Gelegenheiten geboten, ihn anzusehen, ohne daß er gleich verlegen wurde oder den Blick abwandte. Vermutlich,

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