Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
mitgeteilt:
Julius, diese Lupe hat mir gehört. Sie ist alles, was ich Dir vermachen kann, und Du solltest sie stets bei Dir tragen, wenn Du im KHM arbeiten wirst. Sie passt hervorragend in die Tasche einer Uniformjacke. Sie soll Dir dabei helfen, dem auf die Spur zu kommen, was ich in meinem Brief an Dich schon angedeutet habe.
Es grüßt Dich ein allerletztes Mal Dein Vater.
Julius ließ sich auf die Kante des Bettes sinken und starrte auf das zerknitterte Packpapier. Er las die Worte ein zweites und drittes Mal und fühlte einen unheimlichen Verdacht in sich aufsteigen.
Diese Schrift war eine ganz andere als die in dem Abschiedsbrief. Der Abschiedsbrief, den er vor wenigen Stunden in einen Mistkübel am Straßenrand geworfen hatte … Julius wusste, dass der Mann, der ihm den Brief geschickt hatte, ein anderer war, als der, der ihm die Lupe vermachte. Er hatte das Schriftbild des Abschiedsbriefes ganz genau vor sich.
Was waren das für merkwürdige Andeutungen? Was bedeutete diese kryptische Botschaft, die keinerlei Zusammenhang mit dem Brief herstellte, den Kinsky ihm ausgehändigt hatte? Und was für eine Spur meinte der Schreiber?
Julius fragte sich plötzlich, wie es kam, dass dieses Päckchen ihn erreichte, nachdem sein Vater bereits seit Tagen tot war und seit gestern unter der Erde lag.
Er wurde unruhig. Was war da in sein Leben getreten? Was waren das für eigenartige Zufälle? Er lenkte sich ab, indem er den Anzug und die Weste anprobierte und versuchte, sein Spiegelbild im Fenster zu sehen. Doch er konnte nur verschwommene Umrisse wahrnehmen. Er schnupperte am Stoff des Ärmels, aber er roch nur Mottenpulver. Keine Seife und kein Leinen.
In dieser Nacht träumte er, dass er in einem riesigen Suppentopf voll zähem, klebrigem Linsenbrei ertrank. Als er sich schreiend und händeringend nach oben strampelte, sah er die grinsenden Gesichter seines Vaters und des Museumsdirektors, die gemeinsam den Deckel über ihm schlossen.
III
Kinsky saß hinter einem riesigen Schreibtisch. Über ihm hing ein gewaltiger Lüster, der es fast mit der Kuppel des Sezessions-Gebäudes hätte aufnehmen können. Inspektor Lischka musterte den Museumsdirektor verstohlen, der sich aus einer Kristallflasche einen großzügigen Schuss Cognac eingoss. Nur dieses Plätschern war in dem Raum zu hören.
„Nehmen Sie auch einen!“, forderte der Direktor ihn auf und schwenkte ein zweites Glas.
„Ich bin im Dienst“, antwortete Lischka unwillig.
„Ach, seien Sie nicht so asketisch!“, rief Kinsky und goss das Glas voll. Er erhob sich schwerfällig und quetschte sich hinter dem Schreibtisch hervor.
„Falls Sie glauben, Sie könnten mich mit diesem großzügigen Angebot davon abbringen, Ihnen noch ein paar sehr unangenehme Fragen zu stellen, Dr. Kinsky, dann täuschen Sie sich.“ Der Museumsdirektor stellte nur wortlos grinsend den Schwenker vor Kinsky auf einen niedrigen Tisch, auf dem allerlei hochwertige Kunstdrucke lagen.
In diesem Moment klopfte es an der Tür, zaghaft, wie von einem Kind, das sich nicht traut, ins elterliche Schlafzimmer zu treten. „Herein!“, brüllte Kinsky und hüllte Lischka in seinen warmen Cognacatem. Die hohe Flügeltür öffnete sich, und ein abgemagerter junger Mann in einem rührend schlecht sitzenden Anzug betrat das Büro des Direktors.
„Pawalet junior!“, krähte Dr. Kinsky dem Mann entgegen. „Nur nicht so schüchtern! Ich habe mich schon gefragt, wann Sie endlich den Weg hierher finden würden.“
Inspektor Lischka straffte sich. Das war also der Sohn des Toten. Kinsky hatte ihm vorhin verraten, dass der junge Julius sich während des Begräbnisses hinter einer Hecke versteckt hatte, und Lischka dachte verärgert an seine beiden Assistenten, die nach verdächtigen Personen hätten Ausschau halten sollen.
Reichlich abgerissen sah er aus, geradezu erbärmlich. In seinem offensichtlich geliehenen Anzug versuchte Pawalet junior wohl, einen guten Eindruck zu machen.
„Darf ich bekannt machen?“, rief Kinsky, „Das hier ist Herr Julius Pawalet, der Sohn des Verstorbenen.“ Und an den Neuankömmling gewandt: „Wissen Sie, der Herr Inspektor und ich, wir hatten es gerade von Ihrem Vater.“
Lischka erhob sich aus seinem Ledersessel und streckte Pawalet die Hand hin. „Rudolph Lischka, Polizei-Inspektor vom Schottenring.“ Die Hand des Mannes fühlte sich an wie ein unterkühltes, nacktes Kaninchen. Er zog sie schnell zurück und musterte Joseph Pawalets Sohn. Er erinnerte
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