Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Sie hat mich geschlagen, schau, hier.“ Sie drehte sich um und zog ihren Kragen auseinander.
Johanna sah ein dunkelblaues Hämatom über dem Schlüsselbein.
„Meine Güte …“, murmelte sie.
„Sie ist hysterisch geworden, aus heiterem Himmel. Wusste nicht mehr, wie sie hierhergekommen ist, und hat ganz seltsame Sachen gesagt.“
„Was für Sachen?“, fragte Johanna alarmiert.
„Dass sie in die Hölle kommt für ihr Schweigen …“ Die Krankenschwester wiederholte Frau Habermanns Worte mit hörbarem Unbehagen in der Stimme, und Johanna fühlte eine steinerne Schwere in ihren Eingeweiden.
„Außerdem hat sie immer wieder nach ihrem Sohn gerufen. Ich weiß nicht … hatte sie denn einen?“
***
Vor dem schmucklosen Eingang eines Zinshauses in der Lenaugasse stand ein einsamer Mann mit einem schlecht verpackten Paket unter dem Arm und sah so jämmerlich und verloren aus, als hätte er gerade erfahren, dass man ihn von dem Weihnachtsfest, zu dem er eingeladen war, soeben wieder ausgeladen hatte.
Unschlüssig blickte er an der Fassade hinauf, in der die hellen Ausschnitte der Fenster leuchteten und ihn mit ihrem heimeligen Kerzenschimmer zu verhöhnen schienen. Als wäre jedes warme goldene Viereck dort oben ein ausgestreckter Finger, der ihn in die dunkle Ecke der Einsamkeit zurückwies.
Julius Pawalet traute sich kaum, die Hand nach dem Klingelknopf auszustrecken, auf dem der Name R. Lischka stand.
Zitternd fasste er das Paket unter dem Arm fester und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er drückte auf den Klingelknopf und wartete. Das blecherne Schellen hallte durch das Haus. Dann blieb es lange still.
In dieser Nacht hält alles den Atem an, dachte Julius.
Grimminger wird gewiss nicht an seiner Fälschung arbeiten. Der Bildermörder ruht sich vielleicht von seinen Taten aus. Kinsky wird sich bei einer ahnungslosen Familie den Bauch vollschlagen, und der Hofrat wird im Angesicht seiner festlich gekleideten Frau vergessen haben, dass er mir ans Leben will. Und Johanna wird über ihrem hart erarbeiteten Abendessen alles tun, um mich aus ihren Gedanken zu verbannen.
Alles schien erstarrt und brüchig. Als wären alle Menschen in dieser Nacht zu Mumien geworden. Es gab nichts zu tun. Er war zur Untätigkeit verdammt. Er konnte den Gedanken, allein zu sein, plötzlich nicht mehr ertragen und fragte sich, warum er nach all den Jahren der Vereinzelung so plötzlich keine Kraft mehr dafür hatte.
Er wusste, dass es in dieser Nacht nur einen gab, der ebenso zur Untätigkeit verurteilt war wie er selbst. Und so hatte Julius sich in ein Ladengeschäft gedrängt, dessen Besitzer gerade schließen wollte, und noch eine Dose Räucherhering, ein Brot, einen kleinen Kuchen und eine Flasche billigen Wein gekauft. Der Verkäufer hatte alles eingepackt und unter die Verpackungsschnur sogar ein Tannenzweiglein gesteckt. Mit diesem Gastgeschenk stand Julius Pawalet nun also vor der Tür des Inspektors in der stillen Josefstadt und hoffte inständig, dass Lischka auch der Meinung war, dass sie beide längst Freunde waren.
Doch im Haus blieb alles still.
Dann öffnete sich eines der dunklen Fenster, und der Kopf des Inspektors tauchte hoch oben an der Fassade auf. Julius schaute hinauf und winkte. Irrte er sich oder lächelte Lischka?
Es dauerte endlos lang, bis die Eingangstür aufging und Rudolph im Morgenrock vor ihm stand. Wortlos winkte er ihn herein, und sie stiegen schweigend in den vierten Stock hinauf.
„Ich wollte dir sowieso vorschlagen, dass du eine Weile bei mir wohnst“, sagte der Inspektor beiläufig. „Der Hofrat will dir ans Leder, das weiß ich. Du solltest kein unnötiges Risiko eingehen.“
„Dann störe ich dich also nicht?“, fragte Julius mit einem Zittern, und er musste sich beherrschen, um dem anderen nicht um den Hals zu fallen. Die Erleichterung legte sich um ihn wie ein warmer Mantel.
„Ach was. Ich habe mich nur gerade selbst bemitleidet. Da kommt deine Störung gerade recht.“
Die Wohnung des Inspektors war groß, mit vielen Türen zu weiteren Räumen, und sie war eiskalt. Rasch zündete er ein Feuer im Kamin im Wohnzimmer an und wusch verlegen ein paar Teller ab. Die Küche war nur spärlich erhellt und lag im Dämmerlicht, aber Julius vermutete, dass sie in das typische Chaos eines Mannes ohne Frau zwischen Leere und altem Schmutz getaucht war.
„Wie lange feierst du Weihnachten schon so?“, wollte Julius wissen.
„Seit Charlotte tot ist.“
„Hast du keine
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