Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Ankläger. Es war wie ein Spießrutenlauf, und als er durch die Tür des Rubenssaals trat, war er schweißgebadet. „Ist recht gruselig hier drin um diese Stunde“, erklang eine Stimme aus einer hell ausgeleuchteten Ecke des Saales. „Ich arbeite auch lieber tagsüber hier, aber den Herrschaften brennt wohl ein wichtiger Termin auf den Nägeln.“
Die spöttische Stimme von Otto Grimminger troff wie giftiger Schlamm in Schattenbachs Hirn. Was war nur los mit ihm? Woher kam auf einmal dieses pochende Unbehagen in seiner Brust? In all den Jahrzehnten hatte er noch nie solche Angst empfunden.
„Ach, Schattenbach!“ Der Museumsdirektor saß auf einer der Samtbänke und winkte mit einem Glas Wein. „Fröhliche Weihnachten wünsch’ ich auch!“
Kinskys alkoholgeschwängerter Atem schlug ihm entgegen. Er hing schief wie ein schlecht gepackter, überquellender Seesack auf dem blauen Samt und hatte die Beine weit gespreizt von sich gestreckt. Neben ihm lag auf einer Silberplatte ein halb gegessener Bratfisch, dessen Gestank durch den Raum wehte.
Die Anwesenheit des Direktors irritierte den Hofrat. Er hatte Otto Grimmingers Honorar beträchtlich erhöht, damit der während der Weihnachtstage die Medusa endlich zu Ende malte. Dafür war das Original aus der Restaurierwerkstatt im Keller geholt und auf eine Staffelei gestellt worden. Grimminger bevorzugte es, im Rubenssaal zu malen, da er sich dort am wohlsten fühlte. Sollte der Restaurator Kittelberger wieder zur Arbeit erscheinen, würde die Medusa in der Werkstatt ordentlich auf dem Untersuchungstisch unter der großen Lampe liegen. Aber der Hofrat hatte Kinsky aufgetragen, dem Restaurator über die Tage nach Weihnachten freizugeben, so dass Grimminger auch tagsüber malen konnte. Um ihn herum brannten Lampen und Kerzen, und der Kopist malte schon wieder mit chirurgischer Konzentration, als wären seine beiden Auftraggeber gar nicht da.
Der Hofrat blickte erschöpft zwischen dem unheimlichen Maler und Kinsky hin und her. Plötzlich hatte er vergessen, warum er eigentlich hier war. Warum war er an Heiligabend zu so später Stunde hierhergekommen? Die wütende Unruhe, die ihn aus dem Speisezimmer getrieben hatte, war versickert wie der Wein, den Kinsky auf den Samtpolstern verschüttet hatte.
„Ha!“, brach es aus Kinsky heraus, und er schwenkte sein Glas. „Die Heilige Dreifaltigkeit … was?!“ Er stieß ein grölendes Lachen aus.
Der Hofrat wich einen Schritt zurück. Wie armselig das doch alles war. Anstatt mit Frau und Familie zu feiern, saßen sie hier, unter dem gläsernen Gewölbe ihres Schlachtfelds. Auf einmal kam ihm diese eingeschworene Gemeinschaft verrucht und anstößig vor.
Der Hofrat verdrängte diesen längst verloren geglaubten Rest von altem Ehrgefühl und trat zu Otto Grimminger. Er sah dem Maler über die Schulter. Sah auf die Leinwand und auf den noch etwas blassen Ausschnitt, der den Kopf der Medusa umgab. Grimminger malte wie besessen, und dennoch stimmte jedes Detail, jede Schattierung und jede noch so kleine Abstufung der Farben.
Dieser Mann, dachte Viktor von Schattenbach, treibt uns noch alle ins Verderben. Wenn er nicht gewesen wäre, wären sie heute alle nicht in dieser Lage. Dieser Mann war ein Teufel, der sein unerhörtes Talent im Tausch gegen Schattenbachs Seele bot.
„Wie lange noch?“, flüsterte er dem Maler zu.
„Nun, der Rand ist bald fertig“, sagte Grimminger beiläufig und ohne aufzusehen. „Ich wäre allerdings glücklich, wenn dieser schmatzende, lallende Mensch nicht hier wäre. Sie wissen ja, Schattenbach, nur ein zufriedener Maler ist ein schneller Maler, und wie ich hörte, drängt die Zeit.“
„Ja, schon gut, ich werde ihn gleich nach Hause bringen“, versprach der Hofrat.
„Nach Hause?“, dröhnte Kinsky. „Das hier ist mein Zuhause.“
„Nicht mehr lange!“, schrie der Hofrat ihn an. „Nicht mehr lange.“
„Gibt es Schwierigkeiten, Herr Hofrat?“, fragte der Maler mit einem überheblichen, gönnerhaften Tonfall.
„Das hat Sie nicht zu interessieren, Grimminger. Malen Sie das Bild fertig. Und sagen Sie mir, wo der Kranzer ist.“
„Kranzer? Heute ist Weihnachten. Na hören Sie mal, denken Sie, nur weil wir drei Gespenster an Weihnachten im Kunsthistorischen Museum sitzen, muss es uns Kranzer gleichtun? Der Mann hat Familie.“
Einen Moment lang dachte der Hofrat voller Neid an seinen zuverlässigsten Mitarbeiter. Kranzer war ein nützlicher Mann, ein Mann fürs Grobe. Er war
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