Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
über die reichen Früchte des alten Jahres freuen?
Luise streckte langsam die Hand aus, und der Hofrat glaubte, sie wollte nach dem Weinglas greifen. Er fragte sich, warum sie noch nicht miteinander angestoßen hatten, und fasste nach seinem Glas. Doch dann ging alles so verwirrend schnell, und es geschah etwas Seltsames, Falsches. Etwas, das im Weihnachtstraum des Hofrats nicht vorgesehen war.
Luises Hand packte eine Scheibe der dampfenden Knödel und schleuderte sie mit voller Wucht auf ihren Mann. Der heiße Knödel klatschte an die Wange des Hofrats.
„Du grässlicher Vielfraß!“, schrie Luise und sprang von ihrem Stuhl auf. Der Hofrat war so verblüfft, dass er sich nicht bewegen konnte. Er dachte immer noch, dass dieser Angriff vielleicht irgendeine neue Spielart von Luise war. Eine eher gewöhnungsbedürftige Spielart, aber nichts, was er nicht mit ihr geteilt hätte. Doch dann griff Luise mit der Hand in die Krautschüssel und warf die heiße Ladung auf ihren Mann. Das Kraut verfehlte ihn und klatschte hinter ihm an die Wand.
„Luise …!“
„Halt den Mund, Viktor. Ich habe dich so satt!“ Sie stützte die Ellbogen drohend auf den Tisch und starrte ihn an.
„Aber, Liebes, was … was ist denn auf einmal los?“, stammelte der Hofrat.
„Auf einmal?“, zischte sie. „Du fragst mich, was auf einmal los ist?! Wie kannst du nur hier sitzen und dich vollstopfen und nicht sehen, was sich über uns zusammenbraut?“
Der Hofrat stemmte sich mühsam von seinem Stuhl hoch. Seine Knie zitterten auf einmal wie vor einer Prüfung; der letzte Bissen schien ihm noch im Hals zu stecken. „Meinst du wegen … dieser Sache vor ein paar Tagen?“, fragte er vorsichtig.
„Ich meine diese ganze schreckliche Situation! Hast du dir schon einmal überlegt, dass die Polizei jeden Moment vor der Tür stehen und uns beide verhaften könnte? Und du sitzt hier und frisst Gans!“
Eine gewaltige Welle von Zorn ging von Luise aus wie von einem heißen Ofen. Sie beugte sich über den Tisch und ergriff die angeschnittene, immer noch dampfende Gans.
„Luise … nicht …“, keuchte der Hofrat, doch die Gans flog im hohen Bogen über den Tisch und landete auf dem orientalischen Teppich.
„Wie kannst du hier sitzen und Weihnachten feiern?“, schrie Luise. „Aber, Liebes. Es ist Weihnachten.“
Als Antwort darauf segelte die Platte mit den Knödeln durch den Raum in die Zweige des Tannenbaumes.
„Ich halte es nicht mehr aus, Viktor!“ Luise rannte um den Tisch herum und knallte dem Hofrat ihre heiße, glitschige Hand ins Gesicht. „Du widerst mich an! Wegen dir wird alles auffliegen, weil du nicht in der Lage bist zu handeln. Stattdessen hoffst du auf eines deiner perversen Spielchen. Aber nicht mit mir, du fettes Schwein!“
Mit einer sensenartigen Bewegung wischte sie die Weingläser vom Tisch. Viktor von Schattenbach wich zurück.
„Was … was verlangst du von mir?“, stammelte er. Er hatte noch nie solche Angst vor Luise gehabt. Das war nicht die Luise, die er kannte, diese leise, gefährliche, maliziöse Zauberin. Das hier war eine Furie, der er alles zutraute. Auch dass sie ihm mit dem Tranchiermesser die Augen ausstechen würde.
„Du weißt, was ich verlange!“, zischte sie. „Du hast es einmal getan, also tu es wieder, oder ich lasse mich von dir scheiden. Und dann wirst du bluten. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dein Spiel mitspiele, weil ich deine Verbündete bin! Ich tue das alles nur für mich. Und ich habe entschieden, dass ich deine träge, dumpfe Genusssucht nicht mehr ertragen kann. Du bist kein Mann mehr, Viktor! Du bist eine Witzfigur. Eine fette, impotente Witzfigur, die nicht merkt, dass sie auf den Abgrund zutreibt.“
Der Hofrat hob beschwichtigend die Hände. Luises Worte verletzten ihn nicht. Nein, ihre Beschimpfungen, die erniedrigenden Worte und ihr gemeiner Tonfall erregten ihn. Er kannte dieses Thema. Er wusste, was sie von ihm verlangte.
„Luise, bitte lass uns vernünftig miteinander reden. Ich habe dir gesagt, dass ich es nicht noch einmal tun kann. Setz dich, wir rufen das Mädchen, sie soll aufräumen, und dann essen wir unser schönes Weihnachtsmahl. Ich esse auch vom Boden, wenn du das möchtest, Liebes. Und unter dem Baum liegt ein wunderbares Geschenk für dich … du wirst dich sehr freuen.“
Er verstummte, als er Luises Blick spürte, der sich wie eine glühende Nadel in seinen Kopf bohrte. Sie wich ein paar Schritte von ihm zurück und starrte ihn
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