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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
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Wendung in seinem Leben geführt hat.“
    „Sie meinen, dass er versucht hat, auf ein wertvolles Gemälde zu pissen?“
    „Jeder hat seine persönliche Strategie, mit Zurückweisungen und Misserfolgen umzugehen“, antwortete Brucker ungerührt.
    „Was ist im Gefängnis Ihrer Meinung nach passiert?“
    „Sie mögen glauben, dass Lanz ein verrückter, zerstörerischer Mensch war, aber er war auch ein zutiefst sensibler Künstler. Und dieses Naturell wurde im Gefängnis natürlich vollständig zerstört. Sie kennen die Rituale und Gepflogenheiten im Kotter, Herr Inspektor. Die Wärter nehmen nur wenig Rücksicht auf eine empfindsame Seele wie Lanz.“
    „Warum sollten sie auch?“, murmelte Lischka missbilligend.
    „Die Wärter haben Lanz gequält. Sie haben ihn gedemütigt und schikaniert. Und sie haben ihn von der wichtigsten Quelle ferngehalten, die ihm in diesen schlimmen Jahren hätte helfen können.“
    „Sie wollen mir jetzt nicht erzählen, dass die bösen Wärter ihm Leinwand und Ölfarben verweigert haben“, lachte der Inspektor.
    „Ihr Spott ist gänzlich unangebracht“, seufzte der Arzt. „Aber gut, ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie die komplexen Mechanismen der menschlichen Seele verstehen.“
    „Na, dann beleuchten Sie mir die komplexe Seele des guten Herrn Lanz, Gott hab ihn selig. Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen. Und geben Sie mir bitte eine von Ihren Salmiakpastillen. Ich habe so einen staubigen Geschmack im Mund.“
    Brucker reichte ihm die Schachtel mit einem versöhnlichen Lächeln und begann zu erzählen. „Wir bekamen eine Überführungsanfrage vom Landesgericht. Der Gefängnisdirektor bat mich, mir Lanz anzusehen, weil sein Zustand besorgniserregend, um nicht zu sagen, lebensgefährlich war. Er war vollkommen abgemagert und dehydriert. Im Grunde war auch er in eine Art katatonischen Zustand gefallen, ähnlich wie Rohrbach. Die Wärter erzählten, dass er die Wände der Zelle mit seinem Kot beschmiert hatte. Einer Gemeinschaftszelle, wohlgemerkt. Die anderen Insassen haben ihn daraufhin halb totgeprügelt. Lanz hatte anscheinend immer wieder um Papier und Kohle gefleht, doch dieser Wunsch wurde ihm nie gewährt. Nun, ich denke, dass die Verweigerung, ihn malen zu lassen, bei ihm eine schwere psychische Krankheit ausgelöst hat. Als ich ihn in Brünnlfeld aufgenommen habe, war er zutiefst verstört, er hat nicht gesprochen und nicht gegessen, er hat nur vollkommen zwanghaft mit den Fingern auf allen möglichen Flächen herumgemalt. Und das, obwohl sie schon ganz wund und blutig waren. Sein rechter Zeigefinger war … nun, das wollen Sie sicher nicht hören. Selbstverstümmelung ist der richtige Ausdruck für sein Verhalten.“
    Lischka hob die Hand, brav wie ein Schüler. Er hatte eine Frage. „Warum haben Sie ihm keine Malsachen gegeben? Sie hätten ihm doch Papier und Kohle bringen können. Hätte das nicht geholfen?“
    „Das hätte ich gern getan, aber ich habe zum damaligen Zeitpunkt nicht gedacht, dass ihm das helfen würde. Er war viel zu verbissen und geradezu besessen von dem Gedanken zu malen. Ich wollte den Ursachen auf den Grund gehen, anstatt nur ein äußeres Bedürfnis zu befriedigen.“
    „Sie haben ihm also seine wichtigste Quelle vorenthalten, genau wie die Gefängnisaufseher.“
    Der Arzt stöhnte entnervt auf. „Sind Sie gekommen, um über mich zu urteilen?“
    Lischka schwieg, und der Arzt fuhr fort: „Ich wollte diesen Zwang heilen. Wenn ich ihn hätte malen lassen, wäre sein Geist möglicherweise verlorengegangen an eine Sphäre, aus der ich ihn nicht mehr hätte zurückholen können, verstehen Sie? Ich wollte ihn heilen, dann hätte er wieder malen können. Aber ich wollte, dass er mit klarem Geist malte, als der erstklassige Künstler, der er früher war, und nicht als dieses leere, geschundene Geschöpf, das nur nach einer Möglichkeit suchte, sich noch mehr abzukapseln.“
    „Aha. Und wie ging es dann weiter? Was ist passiert, nachdem Rohrbach entlassen worden war?“
    Doktor Brucker begann, seine Brille gründlich zu polieren. „Ja also, das war recht eigenartig, muss ich sagen. Nachdem Rohrbach, der eigentlich seine einzige Bezugsperson in der Anstalt war, entlassen wurde, hat sich sein Zustand allmählich deutlich gebessert.“
    „Inwiefern?“
    „Er hat aufgehört mit den zwanghaften Malbewegungen und sich langsam wieder normal benommen. Er hat wieder etwas mehr gegessen, und sein Gemüt hat sich aufgehellt. Er hat zum ersten Mal

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