Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
gepresst wurde. Mit einem Keuchen öffnete er die Augen und starrte einen Moment lang panisch ins Dunkel des fremden Schlafzimmers. Noch in keiner Nacht zuvor hatte er den begangenen Diebstahl derart schmerzhaft empfunden. In keiner einzigen Nacht war das Ungeheuer so nah gewesen. Hastig setzte er sich auf, zog krampfhaft die Luft ein, um den schrecklichen Druck auf seiner Brust zu lösen. Er zitterte in der abgestandenen Luft, die nach Ölfarben und Terpentin stank. Es schien so, als wollte der zentimeterdicke Staub auf dem Boden in kleinen giftigen Wolken aufsteigen und ihn ersticken. Hastig sprang er aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die eiskalte Luft beruhigte ihn sofort. Er atmete die stechende Kälte so lange ein, bis er das Ungeheuer nicht mehr spürte.
Der Mond war wie ein erbarmungsloses Auge in einer Höhle aus schwarzen Wolken. Er senkte den Blick und beobachtete stattdessen eine Katze, die durch den tiefen Schnee huschte. Irgendwo schwankten die einsamen Töne einer Kirchenglocke zu ihm herüber. Es war vier Uhr. Und dann drang die Erkenntnis zu ihm durch.
Seine Zeit war um.
Seltsamerweise erfüllte ihn diese Erkenntnis nicht mit Furcht. Er hatte schon am Anfang dieser Reise gewusst, dass sie hier enden würde. Und bei einem großen Künstler gehörte es dazu, dass große Taten von einem würdevollen Tod gekrönt wurden.
Doch wäre dieser Tod würdevoll, wenn man ihn aufs Schafott führen würde? Das stand ihm nämlich bevor, wenn dieser Inspektor ihm hierher folgte. Er traute dem Mann durchaus zu, dass er von Doktor Brucker die richtigen Informationen erhalten hatte und dass er die richtigen Schlüsse ziehen konnte. Früher oder später würde die Polizei Ludwig Rohrbach finden. Und dann würde man ihn hängen. In Wien war man nämlich der Meinung, dass er dieses Ende verdient hatte – trotz seiner großen Kunst.
Allmählich wurde es zu kalt am offenen Fenster. Er schloss es, tappte über den staubigen Boden in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Brot; der kleine Kanonenofen in der Ecke glühte immer noch sacht vor sich hin.
Alois Lanz setzte sich und aß das Brot. Das mechanische Kauen half ihm beim Nachdenken. Denn einmal noch musste er nachdenken, bevor es zu Ende ging. Er würde nämlich nicht hier sitzen und auf seine Vollstrecker warten. Nein – es war immer noch genug Zeit, sich noch tiefer und nachhaltiger ins Gedächtnis dieser Stadt einzubrennen. Das Werk konnte erweitert werden. Seinem Oeuvre fehlten noch ein paar wichtige Ergänzungen. Es war noch nicht vollständig. Danach konnte man ihn seinetwegen vierteilen oder bei lebendigem Leib verbrennen, aber dann war es wenigstens vollbracht und er, der Künstler, am Ende seines Werks angekommen. Wie schön musste es sich doch anfühlen, nach dieser herrlichen Schaffensperiode abzutreten. Ja, wenn er so darüber nachdachte, freute er sich auf den letzten Vorhang.
Er hatte keine Angst vor dem Tod.
Aber vorher musste er noch zwei Dinge erledigen. Es gab noch zwei wundervolle Gemälde im Kunsthistorischen Museum, die er gern umsetzen wollte. Eines davon war geheimnisvoll und rätselhaft, das andere brachial und blutrünstig. Und er wusste genau, wer ihm dabei als Modell dienen würde.
XII
Otto Grimminger prüfte mit zusammengebissenen Zähnen die Temperatur des großen Backofens, der in einer Ecke seiner dunklen Werkstatt stand. Die Hitze war nicht sehr groß. Auf der mittleren Schiene des Ofens lag seine letzte Arbeit. In der behutsam eingestellten, wohlabgestimmten Wärme lag das, was Besucher des Kunsthistorischen Museums bald wieder als die schauerliche Medusa von Rubens bestaunen würden. Mit etwas Glück würde dieser irre Mörder erst in etlichen Wochen gefasst werden, so dass das Kunsthistorische Museum noch eine Weile geschlossen blieb. Das käme dem künstlichen Alterungsprozess des Bildes sehr entgegen.
Normalerweise hätte Otto Grimminger sich niemals zu so einem übereilten, schlampigen Verfahren hinreißen lassen. Früher hatte er die Fälschungen bis zu einem Jahr trocknen lassen und dann erst in den Ofen gelegt. Und erst wenn er restlos überzeugt war, dass niemand den Unterschied bemerken würde, gab er sein Werk frei. Doch dieses Vorgehen hatte der Hofrat schon seit geraumer Zeit nicht mehr gestattet. Von Schattenbachs Gier war immer weiter gewachsen, und die Zeit, die es brauchte, um eine erstklassige Fälschung herzustellen, zunehmend beschnitten worden. Sie waren immer größere Risiken eingegangen,
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