Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
Vom Netzwerk:
seinen Schoß fallen. Steif und verkrümmt wie erfrorene Vögel ragten sie aus den Ärmeln. Julius versuchte, die Finger zu bewegen und stieß einen schmerzerfüllten Laut aus.
    Luise steckte den Schlüssel wieder ein und ergriff Julius’ eiskalte Finger. Sie umschloss sie mit ihren Händen und hielt sie fest. Julius sah sie an, als wäre sie eine Marienstatue, die eben begonnen hatte, blutige Tränen zu weinen.
    „Nun schau mich nicht so an, als wäre ich vom Himmel herabgestiegen. Ich will dir gerade beweisen, dass ich keine so böse Hexe bin, wie ich dich glauben machen wollte.“
    „Und warum wollten Sie mich glauben machen, dass Sie eine böse Hexe sind?“, fragte er.
    „Oh, täusche dich nicht. Ich bin schon eine. Aber ich werde nicht zur Mörderin, nur weil der Hofrat sein Gewissen nicht weiter belasten will. Wer weiß? Vielleicht wird es unterhaltsam mit dir, Julius. Irgendwann … später …“
    Luise drückte die kalten Hände und rieb die Finger einzeln warm. Sie spürte die Frage, noch ehe Julius sie aussprach.
    „Warum … warum wollen Sie das?“
    „Was?“
    „Königin von diesem … diesem Imperium sein?“
    „Hast du damit ein moralisches Problem, Kleiner?“
    Julius schüttelte den Kopf. „Nein. Ich frage mich nur, wie so etwas funktioniert.“
    Luise lächelte spöttisch. „Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Geschichte ist. Du solltest langsam schauen, wie du von hier wegkommst.“
    Julius schüttelte den Kopf. „Ich kann unmöglich fliehen, wenn ich meine Hände nicht spüren kann“, sagte er. „Ich glaube, Sie müssen sie noch ein bisschen reiben.“ Seine Stimme war leise und rau. Und in seinem Tonfall lag eine Eindringlichkeit, die weit über das Bedürfnis hinausging, wieder ein Gefühl in den Fingern zu bekommen.
    Luise hob den Kopf und sah ihren seltsamen Gefangenen an. Julius’ Augen schienen hinter einem Nebel zu liegen. So einen Blick hatte sie noch nie gesehen. Bittend und gierig, und auf eine eigenartige Weise wissend. Luise lächelte vor Überraschung. Plötzlich sah sie ihn mit anderen Augen. Dieser junge Mann – so abgerissen und vernachlässigt er auch aussehen mochte, aber in seinem Gesicht lag eine Intensität, die sie nur selten bei einem Mann sah.
    „Hör zu, Julius“, sagte sie. „Ich weiß, dass du glaubst, du kannst es mit mir aufnehmen. Aber da irrst du dich. Ich hoffe, das Mädchen, mit dem ich dich erwischt habe, ist nicht gekränkt. Du solltest ihr sagen, dass ich einfach nur eine Frau bin, die ihre Freunde nicht von den Feinden unterscheiden kann. Das sollte als Entschuldigung genügen.“
    Draußen hörte sie das Schnauben der Pferde. Bald würde der Gewährsmann Delaunie eintreffen. Und sie wusste, dass der Hofrat, wenn er mit seiner Geduld am Ende war, Julius ebenso leicht töten würde, wie er es mit dessen Vater getan hatte. Aber noch war Zeit.
    „Du fragst dich, warum ich auch ohne das Geld dieses gierigen Menschen eine Königin sein werde?“, nahm sie den Faden wieder auf. „Weil die Männer jemanden wie mich brauchen. Oh, nicht so, wie sie eine gewöhnliche Hure brauchen. Sie brauchen mich auf einer ganz anderen, geheimen Ebene, die nichts mit ihrer üblichen Geilheit zu tun hat.“
    „Sie meinen im Unterbewusstsein?“, hauchte Julius.
    „Wenn du dieses neue Wort benutzen möchtest, ja. Und weißt du auch, warum?
    Weil Männer seit Jahrtausenden im Krieg mit der Frau liegen. Das Weib wurde schon immer unterdrückt und voller Verachtung behandelt. Männern ist immer nur eins eingefallen, was sie mit Frauen machen können: sie dämonisieren oder ausbeuten, sie verbrennen oder schwängern. Und in unserer heutigen Zeit beschränkt es sich darauf, dass sie uns zu Dekorationsobjekten machen. Sie halten uns dumm und unmündig. Ich glaube ja, dass sich das einmal ändern wird, aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.“
    „Woher wissen Sie so genau Bescheid über die Geschichte?“, fragte Julius, aber Luise ging nicht darauf ein.
    „Jedenfalls glaube ich, dass in diesem falschen Gleichgewicht, das seit Jahrhunderten das Schicksal der Menschen bestimmt, ein Fluch liegt. Es ist unnatürlich. Und die Männer wissen das. Sie spüren es. Sie fühlen ganz tief drin, die Unvollkommenheit ihres Geschlechts wie eine versteckte Krankheit.“
    Julius’ Gesicht zeigte nicht die geringste Ablehnung bei diesen Worten. Er sah Luise so interessiert an, als hätte er sich diese Gedanken selbst schon einmal gemacht.
    „Nun,

Weitere Kostenlose Bücher