Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
wusste, war eine alte Frau am Fenster erschienen und hatte sie angeschrien: „Der Rumtreiber ist nicht zu Haus’!“
Johanna hatte in das verkniffene Gesicht der Alten geblickt und begriffen, dass sie Julius umsonst gesucht hatte. Mit gesenktem Kopf ging sie fort. Sie fühlte einen unbekannten Schmerz in sich. Verstohlen wischte sie sich eine Träne weg und stapfte durch den Schnee zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Was hast du denn erwartet, du dumme Gans, schalt sie sich. Was hast du denn erwartet von einem Mann, der lebt wie ein Sandler, der nichts über seine Familie weiß, der in anderer Leute Häuser einbricht und einen Säufer zum Vater hat?
Als Johanna in dem stickigen Waggon saß, wurde ihr bewusst, dass sie Julius hinterherrannte wie eine besorgte Mutter. Oder wie eine eifersüchtige Geliebte, die ihn zur Rede stellen wollte. Johanna fragte sich, was sie für Julius war. Wahrscheinlich nur irgendein dahergelaufenes spätes Mädchen.
Doch es musste einen Grund haben, warum sie sich an einem ihrer seltenen freien Tage so aufrieb für diesen Mann. Vielleicht wollte sie sich beweisen, dass Julius Pawalet doch ein anständiger, guter Mensch war. Dass es einen Sinn hatte, dass sie nachts nicht mehr schlief und sich benahm wie eine Verrückte. Ein bitterer Geschmack stieg in ihrer Kehle hoch. Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte sie. Dieser Mann hat mich ausgewechselt. Er hat mich zu einer blinden, naiven Schlampe gemacht. Sie fragte sich, warum sie Julius nicht loslassen und ihn seiner Wege gehen lassen konnte. Doch sie fand keine Antwort. Da fiel ihr plötzlich der einzige Ort ein, an dem Julius sich noch aufhalten konnte.
Eine Stunde später hatte sie die Adresse von Inspektor Rudolph Lischka gefunden und drückte auch hier den Klingelknopf umsonst.
Sie wollte sich gerade abwenden und gehen, als sie einen dunkel gekleideten Mann die Straße herunterkommen sah. Er steuerte auf das Haus zu, und als er nah genug war, erkannte sie den Inspektor.
„Suchen Sie jemanden, junge Dame?“, sagte der und legte den Kopf schief, als fragte er sich, woher er Johanna kannte. „Waren Sie … Sie sind die Krankenschwester, die meinen Freund Julius gerettet hat!“
„Ich wünschte, es wäre so“, murmelte sie verlegen. „Aber woher wissen Sie das?“
„Nach dem, was er von Ihnen erzählt hat. Johanna , nicht wahr? Er hat gesagt, dass sie eine wunderschöne junge Frau sind, die viel zu gut ist für ihn.“
Trotz ihrer düsteren Stimmung stahl sich ein Lächeln auf Johannas Gesicht. „Wissen Sie, wo er ist?“, fragte sie den Inspektor, während der seinen Schlüssel hervorholte.
„Im Gefängnis, meine Liebe. Im Gefängnis.“ Er stieß einen unglücklichen Seufzer aus.
„Was?!“ Die aufkeimende Hoffnung wurde erneut zerstört.
„Ich nehme an, auch Sie kennen ihn nicht gut genug, um ausschließen zu können, dass er zu einem Mord fähig ist?“ Der Inspektor war einen Schritt näher getreten und musterte Johanna eindringlich.
„Zu einem Mord?“
„Ja. Er wird beschuldigt, einen Maler getötet zu haben, der in enger Verbindung zum Kunsthistorischen Museum stand.“
„Diesen Kopisten?“, fragte Johanna. „Er soll ihn umgebracht haben?“
„Nun, meine Liebe, Sie müssen wissen, dass Julius damals nur deswegen zu Ihnen ins Krankenhaus kam, weil er in der Werkstatt eben dieses Malers bei einem Einbruch erwischt wurde.“
Johanna spürte, wie sie blass wurde. „Dann glauben Sie also, dass er noch einmal dorthin zurückgekommen ist und diesen Maler ermordet hat?“
Der Polizist zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich kann Ihnen leider nicht sagen, was genau sich abgespielt hat. Wissen Sie, ich kenne Julius nicht sehr gut. Ich kann nur nach dem gehen, was mir mein Instinkt sagt.“
„Und?“ Johanna legte plötzlich all ihre Hoffnung in diesen Instinkt eines fremden Mannes.
„Mein Instinkt sagt mir, dass Julius unschuldig ist. Und ich kann ein wenig dazu beitragen, das zu beweisen. Deswegen muss ich Sie leider enttäuschen, Johanna – ich habe nur sehr wenig Zeit für Sie.“
Johanna dachte eine Weile nach. „Wann genau soll er den Mord denn begangen haben?“, fragte sie.
„Er wurde gestern festgenommen. Die Leiche des Malers wurde ebenfalls gestern gefunden. Der Pathologe sagt, dass man den Mann am Abend zuvor erstochen hat.“
„Erstochen …“, murmelte Johanna. Ein Hauch von Grauen streifte sie bei der Vorstellung, dass Julius …
„Hören Sie, Johanna!“, sagte der Inspektor
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