Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
plötzlich aufgeregt. „Sie denken doch nicht etwa daran, Julius ein Alibi zu geben!“
Er starrte sie entgeistert an, und Johanna verfluchte sich, dass er ihre Absicht sofort durschaut hatte. Sie schwieg.
Der Inspektor fasste nach ihrem Arm. „Das dürfen Sie nicht!“
Johanna riss sich los. „Wer sagt Ihnen denn, dass ich nicht tatsächlich mit ihm zusammen war? Wir haben vorgestern den Abend miteinander verbracht.“
„Das ist nicht wahr. Julius wohnt seit Heiligabend bei mir.“
„Aber Sie sind Polizist und sind nur selten zu Hause. Woher wollen Sie wissen, dass Julius nicht mit mir irgendwo in einem Separee war?“
Der Inspektor kniff die Augen zusammen. „Sie verfügen über eine beachtliche Menge an krimineller Energie, Johanna.“
„Na, sehen Sie. Dann passen Julius und ich ja wunderbar zusammen.“
Der Inspektor packte Johanna bei den Armen, schob sie in den Hauseingang und drückte sie gegen die Wand. Dann stützte er die Hände neben ihre Schultern, sodass sie nicht entkommen konnte, und zischte: „Warum tun Sie das? Lieben Sie Julius? Das kann ich mir kaum vorstellen, denn Sie kennen ihn bestenfalls seit zwei Wochen.“
Johanna starrte in seine braunen, ernsten Augen und nahm den Geruch nach Mottenpulver wahr, der aus seinen Ärmelaufschlägen stieg. Schlagartig erfasste sie, dass der Inspektor ein einsamer, ahnungsloser Mann war, in dessen Welt ganz andere Regeln galten als in ihrer.
„Was wissen Sie denn über die Liebe?“, fragte sie leise und abfällig.
„Dass man sich in ihr täuschen kann!“, schleuderte der Inspektor ihr entgegen.
„Und Sie glauben, dass ich mich täusche.“
Lischka seufzte. „Nein, Johanna. Ich frage mich nur, warum Sie das tun wollen, obwohl Sie Julius gar nicht kennen. Tun Sie das, weil Sie in ihrem Herzen wissen, dass mein Freund Pawalet kein Mörder ist?“ Er hielt inne und lockerte seine Hände neben ihren Schultern, als sei er plötzlich zu schwach, diese Barriere aufrechtzuerhalten. „Oder tun Sie es, weil Sie sich in ein Phantom verliebt haben, das Sie um Ihrer selbst willen zurückhaben wollen?“
Johanna schob seine Arme zur Seite und starrte ihn wütend an. Inspektor Lischka hatte sie durchschaut. Er hatte sie erkannt und mit vernichtender Leichtigkeit ihre wahren Motive aufgedeckt. Johanna dachte an die beiden Küsse, die sie ihm im Prater abgerungen hatte. An seine kindliche Hilflosigkeit im Krankenhaus. Sie schüttelte verärgert den Kopf. Warum nur konnte sie an nichts anderes mehr denken als an diesen verlorenen Mann?
Sie drehte sich um, und wandte sich zum Gehen. In ihren Augenwinkeln wurde es heiß. Plötzlich ertrug sie die Nähe des Inspektors nicht länger, und sie eilte davon.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können!“, rief Lischka ihr hinterher. „Aber tun sie es nur, wenn er Ihnen wirklich etwas bedeutet.“
VI
Die Fahrt zur Landesgerichtsstraße dauerte wohl nur eine Stunde, aber Julius kam es vor wie eine endlose Reise über die holprige Landstraße. Irgendwann zogen vor den Fenstern wieder die Lichter Wiens vorbei, und dann hielt die Kutsche vor dem Landesgericht.
Er wurde aus dem Wagen gezerrt wie ein Stück Vieh und auf einen von trüben Birnen beleuchteten Eingang zu geschoben.
Vor ihm ragte das massige graue Bossenwerk in den Nachthimmel. Julius fühlte sich wie eine Maus, die in eine riesige Falle tappt.
Drinnen roch es durchdringend nach Kohlsuppe, Schmieröl und ungewaschener Straßenkleidung.
Auch zu dieser späten Stunde war das Gebäude hier nicht verlassen. Ein Polizist hatte eine junge Frau am Nacken gepackt und schob sie vor sich her. Sie trug zerrissene Strümpfe und hochgeschürzte Röcke. Ihre Arme waren trotz der Nachtkälte bloß, ihre Brust in dem engen Korsett war mager, und sie schrie aus Leibeskräften. Eine Prostituierte. Sie würde in einer der Zellen des Gefangenenhauses verschwinden. Für wie viele Nächte und unter welchen Bedingungen, mochte Julius sich nicht ausmalen. Er sah eine Gruppe abgerissen aussehender, betrunkener Jugendlicher, einen blutverschmierten Mann mit Bärenfellmütze und zwei Frauen, die auf Serbisch schimpften und schrien.
Julius wurde eine Treppe hinuntergeführt. Links und rechts in dem düsteren Korridor glänzten Eisentüren. Am Ende des Gangs öffnete sich auf der rechten Seite die massive Eisentür zu einer Zelle. Nackter, feucht glänzender Stein war alles, was er auf den ersten Blick erkannte. Dann landete er unsanft auf einer Holzpritsche, auf der ein
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