Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Magen des Kaisers knurrte. „Wo bleibt denn der Kinsky?“, fragte er wieder.
In diesem Moment erschien ein weiterer Gendarm. Er drängte sich durch die Gruppe und knallte vor Leutnant Tscherba die Hacken zusammen. Dann überreichte er ihm ein Schreiben.
Tscherba riss den Umschlag auf und runzelte die Brauen.
Dann sah er Julius mit fassungslosem Blick an und verkündete in Richtung des Kaisers: „Majestät, ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen, dass das Kunsthistorische Museum einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden muss. Was in diesem Brief steht …“ Er schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. „Ein Mann namens Louis Kranzer hat offensichtlich beschlossen, die wahre Geschichte ans Licht zu bringen. Julius Pawalet, Sie sind ab sofort wieder ein freier Mann.“
Wenige Minuten später hatte Tscherba die Gruppe wieder über den Hof geführt und die Tür zur Eingangshalle geöffnet. Um Julius herum raunten die Männer, Lischka redete mit ernster Stimme auf die Gendarmen ein. Der Kaiser schüttelte betreten den Kopf und beriet sich mit seinen Begleitern. Julius fühlte sich von den aufgeregten Gesprächsfetzen umspült wie von einer Woge.
Er hob den Blick zur Decke und verlor sich einen Moment in der Betrachtung der wunderschönen Ornamente, die ihm vorkamen wie ein Applaus des wiedergewonnenen Lebens. Doch dann erstarrte er. Einer der Männer stieß einen erschrockenen Schrei aus, und der Kaiser wich zurück.
„Gütiger Himmel …“, entfuhr es Leander Blauenstein.
Und Lischka stellte knochentrocken fest, „Das dürfte dann als Beweis wohl genügen.“
Hoch über ihnen, vom Rand der Rotunde baumelte an einem Strick der Körper von Gustav Kinsky.
IX
Neue Freie Presse – Morgenblatt Nr. 14857
Wien, Mittwoch, den 3. Januar 1906
Selbstmord im Kunsthistorischen Museum
Die negativen Berichte, die uns aus der Galerie des allerhöchsten Kaiserhauses erreichen, reißen nicht ab. Jüngst wurde bekannt, dass das Kunsthistorische Museum und einige seiner Verantwortlichen im Kreuzfeuer höchst skandalöser Verdächtigungen stehen. Wie wir aus einer anonymen Quelle erfahren haben, soll der Museumsdirektor Dr. Gustav Kinsky einige der Gemälde aus der Habsburgischen Sammlung entwendet und aus dem Museum entfernt haben. Näheres ist hierzu jedoch noch nicht bekannt. Am 31. Dezember traf sich eine eilig zusammengestellte Untersuchungskommission in Begleitung des Kaisers im seit geraumer Zeit geschlossenen Kunsthistorischen Museum. Nach unabhängiger Expertenmeinung verstoßen die personellen Zustände des Museums gegen alle staatlichen Regelungen und sämtliche Bestimmungen des Kaiserhauses. Erst jüngst wurde der Kunstmaler Otto Grimminger, der ein ständiger Gast des Museums war, in seiner Werkstatt ermordet aufgefunden. Ein Täter wurde erst jetzt überführt, nachdem die Ermittlungen zu Anfang in die falsche Richtung gingen. Dessen Aussagen zufolge reicht der Skandal selbst bis in die höchsten Kreise. Es wurden einige hochrangige Persönlichkeiten am Hofe verhaftet. Weitere Hintergründe sind noch nicht bekannt. Dass Museumsdirektor Kinsky sich in Anwesenheit der Kommission selbst entleibte, mag als schreckliches Schuldeingeständnis gesehen werden. Der Direktor erhängte sich an der marmornen Balustrade der berühmten Rotunde. Der Anblick seiner Leiche erschütterte alle Anwesenden um den Kaiser zutiefst. Wie uns berichtet wurde, konnte ein in der Zwischenzeit seines Amtes enthobener Inspektor, Leutnant Rudolph Lischka, wesentlich zur Aufklärung des Falles beitragen. Das Kunsthistorische Museum bleibt nun so lange geschlossen, bis alle Fragen geklärt sind. Weiter bleibt zu hoffen, dass auch der Wiener Bildermörder bald gefasst wird. Es ist bedauerlich, dass eine so schöne und sinnvolle Einrichtung wie das Kunsthistorische Museum nicht zur Ruhe
kommt und dass sich unlautere Zeitgenossen in materieller Weise an seinen Schätzen bereichern. Wir werden weiterhin über diese Angelegenheit berichten.
Johanna ließ die Zeitung sinken und sah zu Julius hoch. Sie lag ausgestreckt auf dem klapprigen Diwan, der in Julius’ Gästezimmer in Lischkas Wohnung stand.
„In dem ganzen Artikel steht ja nicht ein Wort über dich!“, sagte sie.
„Doch!“, erwiderte Julius. „Da stand: Wie wir aus anonymer Quelle erfahren haben . Damit bin ich gemeint. Ich hätte nie gedacht, dass mal was über mich in der Zeitung steht.“
Er saß auf der Armlehne am Fußende des Möbels und sah zerstreut aus dem
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