Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Fenster.
Johanna stieß ihn sanft mit dem Fuß in die Seite und schob die Zeitung zu Boden. „Ich finde es ungeheuerlich, dass sie nicht schreiben, dass du die ganze Sache aufgedeckt hast.“
Julius seufzte und fasste nach ihrem Fuß. Eine eher fahrige Berührung, wie Johanna feststellte
„Wie würde es denn aussehen, wenn sie schreiben würden: Saaldiener Julius Pawalet ist unser Held, er hat alles aufgeklärt ? Außerdem ist noch überhaupt nichts aufgeklärt. Ich konnte ja nicht beweisen, dass dort Originale gegen Fälschungen ausgetauscht werden.“
Johanna betrachtete ihn aufmerksam und spürte, wie sich ihre Zähne langsam in die Unterlippe gruben. In der Wohnung des Inspektors war es still. Rudolph Lischka war nicht da. Von draußen hörte man das Kratzen einer Schneeschaufel auf dem Trottoir. Die junge Krankenschwester wusste, dass sie sich in einer eigenartigen Situation befand. Ganz allein in einer Wohnung mit einem unverheirateten Mann, den sie erst seit kurzem kannte.
Auf einem kleinen Tisch neben dem Diwan standen Teegeschirr und ein Teller mit Brotscheiben mit Marmelade. Johanna hatte nur einmal an ihrer Tasse genippt, ehe sie diese lässige und, wie sie hoffte, sanft herausfordernde Haltung einnahm. Julius war daraufhin nervös aufgesprungen und hatte ihr die Zeitung zum Lesen gegeben.
Es war seltsam – unter anderen Umständen wäre es Johanna verrucht vorgekommen, sich ganz allein mit ihm zu treffen. Der Anstand und die Vernunft verboten es ihr. Und dennoch war sie hier. Nach allem, was Julius durchgemacht hatte, nach all dem Leid der letzten Wochen erschien ihr diese Situation angebracht und notwendig. Ein Moment, in dem man die Sitten der Zeit nicht beachten musste. Die Erleichterung über den guten Ausgang dieser Sache schien die Peinlichkeit ihres Treffens beiseitezuschieben.
Sie betrachtete ihren Gastgeber. In seinem Gesicht lag keinesfalls das glückliche Strahlen, das man erwarten konnte, sondern der fiebrige Ausdruck eines vollkommen abgekämpften Menschen.
„Ich bin glücklich, dass du alles überstanden hast“, sagte Johanna leise.
Julius zuckte mit den Schultern. „Eigentlich war es Lischka, der den entscheidenden Zug getan hat. Er hat mit der Sicherheitswache in Triest telegrafiert und verfügt, dass Schattenbach aufgehalten wird. Sie haben im Hafen bereits auf ihn gewartet. Er hat die Strecke in neun Stunden geschafft und war schon am nächsten Morgen dort. Er muss seine Pferde so gehetzt haben, dass eines gleich darauf tot umgefallen ist. Die Hafenpolizei hat ihn ohne Begründung festgenommen und das Bild beschlagnahmt. Es wurde auf direktem Weg zurück nach Wien gebracht. Gerade rechtzeitig …“
Die Worte brachen aus ihm heraus, als könnte er sie nicht aufhalten. Johanna setzte sich auf und schlang die Arme von hinten um Julius. Er fühlte sich an wie ein ausgestopftes Tier. Starr und irgendwie leblos.
„Schscht“, sagte sie. „Sei froh, dass es vorbei ist. Denkst du denn immer noch daran?“
„Es ist nicht vorbei.“
„Warum nicht? Was soll denn noch kommen?“, fragte Johanna und bereute es im selben Moment. Damit hatte sie Julius eine neue Gelegenheit gegeben, seinen Redefluss fortzusetzen. Einen Redefluss, der zwischen ihnen stand wie eine Mauer, die sie nicht durchdringen konnte.
„Man wird Untersuchungen im Kunsthistorischen Museum anstellen und den Hofrat befragen. Es gibt anscheinend noch immer keine stichhaltigen Beweise für die Machenschaften Schattenbachs. Vielleicht kommen sie ihm nie auf die Spur. Grimminger war einfach zu gut in dem, was er getan hat. Und dieser Museumsdirektor, Leander Blauenstein – stell dir vor, er hat mir angeboten, sich für ein Stipendium an der Akademie für mich einzusetzen.“
Johanna entfuhr ein ungläubiges Lachen. „Du und ein Kunststudium?“, brach es aus ihr heraus.
Julius sah sie verwirrt an. „Weißt du, dass ich mir so etwas als Junge immer gewünscht habe? Einen Platz an der Akademie. Und die Möglichkeit, dort alles zu lernen, was ich wissen möchte. Das war damals mein größter Traum.“
„Und jetzt?“, fragte Johanna, „Ist es jetzt nicht mehr dein Traum?“
Julius schüttelte den Kopf. „Jetzt habe ich einen Blick in diese Welt getan. Und plötzlich verstehe ich nicht mehr, warum ich jemals dazugehören wollte.“
„Warum?“, wollte sie wissen.
„Ich habe die Akademie verherrlicht. Sie kam mir immer vor wie das unerreichbare Paradies. Rein und edel. Und jetzt merke ich, dass diese
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